“Österreichische Literatur 1945 – 1998?

Über die neue Studie Klaus Zeyringers [1999]

In den letzten Jahren sind eine Reihe von Publikationen erschienen, die der Frage nachgehen, wie eine österreichische Literaturgeschichte auszusehen habe. Doch der Theorie folgte wenig Praxis, weshalb die umfangreiche Studie Klaus Zeyringers, Österreichische Literatur 1945 – 1998. Überblicke, Einschnitte, Wegmarken eine wichtige Lücke füllt. Zwar gibt es seit 1995 mit Wendelin Schmidt-Denglers Bruchlinien. Vorlesungen zur österreichischen Literatur 1945 bis 1990 einen Band, der einen ähnlichen Zeitraum abdeckt. Diese Vorlesungen sind zwar oft instruktiv, können aber eine Literaturgeschichte nicht ersetzen. Außerdem legt Zeyringer den Schwerpunkt auf die Literatur der neunziger Jahre, die bei Schmidt-Dengler nicht mehr berücksichtigt wird.

Damit ist bereits ein wichtiger Aspekt der neuen Publikation angesprochen, nämlich der Versuch, Literaturgeschichte bis in die unmittelbare Gegenwart fortzuschreiben. Obwohl sich die Germanistik inzwischen seit drei Jahrzehnten verstärkt mit der Gegenwartsliteratur auseinander setzt, ist gerade für die Literaturgeschichtsschreibung Gegenwartsbezug immer noch keine Selbstverständlichkeit. Das Buch ist in fünf größere Abschnitte gegliedert, deren erster die theoretische und methodische Rechtfertigung des Projektes liefert. Literaturgeschichte ist für Zeyringer nur als ein prinzipiell revisionsbedürftiges Projekt wissenschaftlich haltbar. An mehreren Stellen plädiert er dafür, den überlieferten Kanon kritisch zu reflektieren, obwohl er selbst naturgemäß nicht um die kanonisierten Autorinnen und Autoren der Nachkriegsliteratur herumkommt. Überzeugend sind seine Argumente, warum eine spezifisch österreichische Literaturgeschichtsschreibung nötig ist, indem er die unterschiedlichen Kontexte der österreichischen und deutschen Literatur herausstellt, die für ein genaues literarhistorisches Verständnis notwendigerweise berücksichtigt werden müßten. Ignoriert man diese Kontextbezogenheit von Literatur, führt das nicht selten zu absurden Ergebnissen, was Zeyringer anhand vieler Beispiele belegen kann. Das „Österreichische“ seiner Literaturgeschichte ist also ausschließlich technischer Natur: Es geht ihm um die Verknüpfung literaturwissenschaftlicher, kultur- und sozialgeschichtlicher Arbeitsweisen, die es ermöglichten, Literatur in der Wechselbeziehung zu der gesellschaftlichen Realität in einem staatlichen und in einem historisch-regionalen Kommunikations-Zusammenhang darzustellen. Den sogenannten „österreichischen Mythos“ will er demnach nicht weiterschreiben, sondern kritisch analysieren.

Der zweite Abschnitt bietet eine umfassenden Überblicksdarstellung über den gesamten Zeitraum und wäre allein schon den Kauf des Buches wert. Zeyringer gelingt es auf gut 150 Seiten nicht nur die wichtigsten Linien der österreichischen Literatur aus der Fülle des Materials überzeugend herauszuarbeiten, sondern darüber hinaus auch, eine umfassende Geschichte des Literaturbetriebs zu verfassen. Erstmals hat damit eine größere Leserschaft die Möglichkeit, sich unter anderem über Buchmarkt und Verlagswesen, die ästhetischen Frontstellungen der Autorenverbände (P.E.N., Grazer Autorenversammlung) sowie über die Entwicklung der „Literaturpolitik“ zu informieren. Im nächsten Abschnitt, Überblicke, nähert sich der Autor seinem Gegenstand paradigmatisch aus verschiedenen Perspektiven. Am Beispiel Handkes, Brandstetters und Artmanns wird so die Auseinanderseetzung mit und gegen starre Sprachformeln thematisiert. Ein Kapitel beschäftigt sich mit dem überraschend häufigen Eis-Schnee-Motiv in der Prosa der späten siebziger Jahre, ein anderes mit dem symbolbefrachteten Motiv der Natur, man denke nur an die Romane Thomas Bernhards. Betrachtungen über die Lyrik Peter Turrinis und über die kritischen Dialektgedichte von Christine Nöstlinger, Annemarie Regensburger und Anna Nöst schließen diesen Teil der Studie.

Drei große Kapitel, in denen neuere Entwicklung jeweils gattungsbezogen beschrieben werden – Lyrik, Dramatik, Prosa -, stehen im Mittelpunkt des nächste Abschnitts, während der das Buch abschließende Teil einige speziellere Fragestellungen aufgreift, wie die intertextuelle Bernhard-Rezeption oder das Frankreich-Bild in der österreichischen Literatur. Dieser kurze Überblick sollte deutlich machen, daß es sich bei Zeyringers Studie, mit Ausnahme des zweiten Abschnitts, um keine tradtionelle Art der Literaturgeschichtsschreibung handelt, sondern daß er versucht, sich seinem Gegenstand paradigmatisch aus verschiedenen Perspektiven zu nähern. Trotzdem gelingt es ihm, wesentliche Teile der österreichischen Nachkriegsliteratur abzudecken, und es wäre nicht nur deshalb wenig sinnvoll, nach vermißten Literaten Ausschau zu halten. Interessanter ist meiner Meinung nach, Zeyringers literaturwissenschaftliche Konzeption und seine theoretischen Ansprüche an deren praktischer Umsetzung zu überprüfen.

Bei der Lektüre des Buches stößt man nämlich regelmäßig auf höchst polemische Passagen, die eher einem fulminanten literaturkritischen Verriß als einer literaturwissenschaftlichen Darstellung gleichen. So kann Josef Haslingers „Kolportage-Roman ‚Opernball‘“ als „Primus in der Taferlklasse der Ästhetik gelten“, um nur ein Beispiel von vielen zu nennen. Mir geht es hier wohlgemerkt nicht darum, ob diese Urteile zutreffend sind – die meisten sind es -, sondern inwiefern diese oft pamphletartig anmutenden Stellen literaturwissenschaftlich gerechtfertigt werden können, zumal sich Zeyringer explizit eine solche Vorgehensweise konzediert: Eine Überprüfung des Kunstanspruchs „müßte doch die Literaturwissenschaft besser leisten können als die schnelle Tageskritik“ (S. 485). Wobei noch anzumerken wäre, daß er sich trotzdem sehr oft, teils zustimmend, teils ablehnend, auf Rezensionen bezieht.

In seinen theoretischen Überlegungen nimmt Zeyringer zu einigen Aspekten des literarischen Wertens Stellung. So kritisiert er berechtigterweise an dem Germanisten Wolfgang Kayser, daß dessen literarischer Maßstab nach 1945 zum Prügel geworden sei und das Benno von Wiese seine Wertmaßstäbe nicht offen legte. Zeyringer bezieht hier eine stark subjektivistische Position, wenn er schreibt ,der „Literaturbegriff sei Konvention“ (S. 23), sowie, daß man ein ästhetisch begründetes System aus diversen Werken herauslesen könne, wenn man nur einigermaßen geschickt sei. Literaturwissenschaftlich lassen sich für diese Position plausible Argumente finden. S.J. Schmidt hat etwa in Die Selbstorganisation des Sozialsystems Literatur im 18. Jahrhundert (1989) die Entstehung der ästhetischen Konventionen detailliert beschrieben. Aber wenn literarische Wertung völlig subjektiv ist, woher nimmt Zeyringer dann die Rechtfertigung für seine oft sehr unerbittlichen Urteile, die ebenfalls an einen Prügel denken lassen?

In der Frage der ästhetischen Wertung kann man zwei Extrempositionen einnehmen. Die eine legt (fast) alle ästhetischen Werte in das Objekt der Kunstbetrachtung, der kompetente Betrachter (Leser) braucht sie dort nur noch aufzufinden. Die andere legt den ästhetischen Gehalt völlig in das Bewußtsein des Wahrnehmenden. Seine Einstellung sei es, welche die ästhetischen Eigenschaften des Objekts hervorbringe. Im ersten Fall sind die ästhetischen Werte also objektiv im Kunstwerk verankert, im zweiten „ereignet“ sich das Kunstwerk im Kopf des Rezipienten. Da für Zeyringer der Literaturbegriff konventioneller Natur ist, vertritt er offenbar letztere Auffassung.

Ergänzt wird diese ästhetische Haltung durch seine Forderung nach einem erweiterten Literaturbegriff, also die Berücksichtigung beispielsweise von Trivialliteratur. Das ist einerseits eine Selbstverständlichkeit für eine Literaturgeschichtsschreibung, die sich auch als Sozialgeschichte versteht. Andererseits führt das im konkreten Fall zu Spannungen mit Zeyringers sonstigen Wertmaßstäben. Denn er läßt im allgemeinen keinen Zweifel daran, daß er der literarischen Moderne und Avantgarde sehr positiv gegenübersteht: „Wenn Literatur nicht glatte Fassaden vortäuschen soll, sondern die Risse und Brüche aktueller Realitäten, Bilder, Identitäten, Bewußtseinszustände künstlerisch fruchtbar machen will, dann muß sie entsprechende Techniken, Konzeptionen, Sprachprogramme entwerfen, die eben die Möglichkeiten geben, in Tiefen der Wirklichkeiten, der Wahrnehmung, des Bewußtseins zu dringen und die mitzuteilen.“ (S. 206) Diese Feststellung ist sehr treffend und verdient es, so ausführlich zitiert zu werden. Allerdings stellt man sich die Frage, wie sie beispielsweise mit dem Versuch Walter Gronds zu vereinbaren ist, der mit wenig plausiblen Argumenten versucht, Simmel als Vorreiter der Postmoderne zu salonfähig zu machen, was von Zeyringer ausführlich und kritiklos referiert wird (S. 147). Andererseits wird Christian Ransmayrs Roman Morbus Kitahara als „Erinnerungs-Kitsch“ heftig kritisiert oder Robert Menasses Schubumkehr vorgeworfen, daß dessen Geschichte nur Kulisse bleibe. Beide Romane sind literarisch wesentlich anspruchsvoller als die Simmels, so daß es inkonsistent ist, die „Rehabilitierung“ von dessen Büchern zu fordern und gleichzeitig wesentlich gelungenere Werke ästhetisch zu verdammen.

Es ist schade, daß Zeyringer seine Fülle kluger literaturtheoretischer Bemerkungen, wie die eben zitierte, durch die beschriebene subjektivistische Ästhetikauffassung selbst als konventionell entkräftet. Vernünftiger wäre es meiner Ansicht nach, einen Mittelweg zu finden, dahingehend, daß man zwar die Rolle des Rezipienten bei der Kunstbetrachtung entsprechend würdigt, ohne deshalb jedoch dem Objekt der Anschauung vor vornherein alle ästhetischen Eigenschaften abzusprechen. Die Annahme gewisser ästhetischer Strukturen im Objekt führt nicht zwangsläufig zu einer starren ästhetischen Werthaltung, schlösse aber eine wenig erstrebenswerte Beliebigkeit des Wertens aus. Eine solche gemäßigte Theorie wäre eine wesentlich solidere Basis für die zahlreichen apodiktischen Wertungen Zeyringers gewesen.

Auch wenn von einem wissenschaftstheoretischen Standpunkt aus Zeyringers massive Wertungen und der angeschlagene Ton („Im Literarischen Quartett grinsen die Werbekönige von ihren Trumpfkarten…“ (216)) nur schwer zu rechtfertigen sein dürften, so sind seine literarischen Urteile doch von einer treffenden Klarsichtigkeit. Der interessierte Leser braucht sich also von den vorgetragenen literaturwissenschaftlichen Einwänden nicht irritieren zu lassen. Zeyringers Buch über die österreichische Nachkriegsliteratur ist derzeit konkurrenzlos und wird es vermutlich auch noch einige Zeit bleiben. Eine Pflichtlektüre für alle, die sich für österreichische Literatur interessieren.

Klaus Zeyringer: Österreichische Literatur 1945-1998. Überblicke, Einschnitte, Wegmarken. 640 Seiten. Innsbruck: Haymon 1999

[Literatur und Kritik Nr. 337/338, September 1999; © Christian Köllerer]

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