Zweig wird – ähnlich wie später Heinrich Böll – gerne in die Schublade „moralisch lobenswert, ästhetisch uninteressant“ gesteckt, weshalb heute von professionellen Lesern vor allem noch seine Autobiographie gelesen wird, weniger die Novellen und Erzählungen, die sich bei einer breiten Leserschaft nach wie vor großer Beliebtheit erfreuen.
In der Tat schreibt Zweig oft sehr manieriert, seine nicht nur mit Adjektiven vollgepackten Sätze können einem leicht auf die Nerven gehen. Andererseits ist er ein guter Beobachter, und er entwirft ein teilweise fulminantes Porträt seiner Zeit. Besonders geschickt arbeitet er mit diversen konstrastierenden Motiven.
Ein ausgewogenes, objektives Bild seiner Zeit hat Zweig nicht anzubieten, aber die ihm bekannte Sphäre des jüdischen Bürgertums in Wien, die Kunstbesessenheit seiner Schulfreunde, die moralische Verlogenheit der Zeit, seine intellektuellen Freunde werden mit großem Schwung beschrieben. Über das Elend der Arbeiterschaft im Wien der Jahrhundertwende ist demgegenüber kaum etwas zu lesen, aber woher sollte der junge, aus wohlhabender Familie stammende Zweig es kennen?
Die Qualität des Buches liegt in der Kombination des meist geglückten Zeitporträts mit Zweigs tragischer Lebensgeschichte. Als einer der wenigen liberalen, europäisch eingestellten Intellektuellen hat er auch zu Beginn des ersten Weltkriegs nicht den Kopf verloren. Sein Weg vom höchst erfolgreichen Schriftsteller ins Exil und in den Freitod dürfte manchen nachdenklicher stimmen als die Lektüre eines historischen Werkes.
Stefan Zweig: Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers (Fischer TB)