Spricht man mit türkischen Städtern über die aktuelle Situation ihres Landes, treten fast alle vehement für einen schnellen EU Beitritt ein. Das scheint zumindest die überwiegende Meinung unter Akademikern zu sein, konkret unterhielt ich mich mit einem Dipl.Ing., einem Betriebswirt sowie mit einem klassischen Archäologen. Junge Hotelangestellte versicherten mir ebenfalls, dass sie große Hoffnung auf den EU-Beitritt setzten.
Die Motive dafür sind in erster Linie wirtschaftlicher Natur. Dass die Türkei nach wie vor enorme ökonomische Probleme hat, ist kein Geheimnis. Aber auch kulturelle Beweggründe sind ein wichtiger Faktor. So hörte ich sowohl in Istanbul als auch in Izmir, dass sich die Städte durch die Millionen von Landflüchtigen in den letzten 20 Jahren sehr negativ entwickelt hätten. Urbaner Lebensstil und Toleranz würden durch die hartnäckig beibehaltenen kulturellen Traditionen beeinträchtigt. Als Beispiel wurde von einem Gesprächspartner eine Familie angeführt, die sechzehnköpfig (Mann mit zwei Frauen und insgesamt dreizehn Kinder), die in eine kleine Stadtwohnung gezogen sei. Das sei kein Einzelfall.
Die in Städten häufig anzutreffende Kinderarbeit – siebenjährige Kinder als Straßenverkäufer – sei zu einem großen Teil darauf zurückzuführen, dass viele Landflüchtlinge ohne Rücksicht auf ihre ökonomische Situation, unzählige Kinder in die Welt setzten.
Interessant an diesen Meinungen ist, dass man vieles davon ebenfalls in Westeuropa hören kann. Mehrfach betonte ein Gesprächspartner, dass man Istanbul mindestens dieselben Integrationsprobleme hätte, wie in europäischen Großstädten.
Obwohl sich die Türkei ideologisch an allen Ecken und Enden mit ihrem laizistischen System schmückt, fällt sofort auf, dass die Religion im Alltag quer durch alle Schichten und Altersgruppen einen für den Durchschnitts-Europäer überproportional hohen Stellenwert hat. In den Moscheen findet man rund um die Uhr betende Menschen, darunter auch viele Junge. Für Touristen bietet sich hier ein pittoreskes Bild, dessen Bedenklichkeit einem erst dann bewusst wird, wenn man über die politischen Implikationen dieser Religiosität nachdenkt.