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Eine Beurteilung der mehr als 2000 Seiten umfassenden Biographie ist schwierig. Auf der einen Seite sind darin die spannenden Ergebnisse einer peniblen Recherchearbeit zu finden, die der Autor über mehrere Jahrzehnte zusammentrug, zum Teil in mühsamer detektivischer Kleinarbeit. Man möchte gar nicht wissen, wie viel Zeit in einzelne Fußnoten gesteckt wurde. Noch nie zuvor konnte man sich so ausführlich über das Leben Robert Musils informieren, bis hin zu entlegenen biographischen Details von Freunden und Verwandten. Man fühlt sich an den Faktenenthusiasmus des literaturwissenschaftlichen Positivismus im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erinnert. Auf der anderen Seite ist ein grundsätzliches Problem im Umgang mit den literarischen Quellen festzustellen (s.u.).
Musil betreffend ist ein enzyklopädischer Ansatz durchaus lobenswert, gab es doch vorher keine umfangreicheren Lebensbeschreibungen. Man stellt sich aber manchmal die Frage, ob die vielen ausführlichen biographischen Abrisse von Personen, die Musils Lebensweg kreuzen, in jeden Fall notwendig sind. Fällt ein neuer Name, setzt Corino regelmäßig zu einem ausführlichen Exkurs über den oder die Betreffende an, so als sei der komplette Lebensweg von Menschen nur deshalb interessant, weil sie einmal kurz mit Musil zusammentrafen.
Problematisch jedoch wird es, wenn Corino diesen positivistischen Ansatz so weit treibt, dass er Musils literarische Texte als biographische Quellen zitiert, so als hätte Literatur exakt denselben Stellenwert wie Briefe, Tagebücher oder diverse Zeitzeugnisse. Eine wie auch immer geartete Differenz, sei es philosophisch (ontologisch, ästhetisch), sei es sprachlich (literaturtheoretisch, pragmatisch) wird implizit nicht anerkannt, anderenfalls wäre das umstandslose Zitieren von literarischen Texten als biographische Belege undenkbar. Kennt man die literaturtheoretische Diskussion seit der Antike, die Komplexität des Themas und die kaum noch zu überschauende Forschungsliteratur dazu, mutet das vergleichsweise befremdlich an.
Im neunten Kapitel beschäftigt sich Corino beispielsweise mit dem schwierigen Verhältnis Musils zu Herma Dietz. Als biographische Quelle (!) wird immer wieder die Novelle (!) „Tonka“ zitiert:
Durch die Krise mit Herma veränderte sich auch Musils Verhältnis zu seiner Mutter. Er kam nicht darum herum, Vergleiche zwischen Hermine I und Hermine II zu ziehen.
(281)
Der Beleg dafür?
Er stellte für seinen Helden fest, auch „die Mutter war einmal ein Mädchen, das mehr noch als Tonka [! CK] zu ihm gepasst hätte.“
(281)
Herma, die Freundin, und Tonka, eine literarische Figur, werden im gesamten Kapitel als semantisch identisch verwendet.
Stellenweise fühlt man sich sogar an Platons Idealstaat erinnert, aus dem der Philosoph alle Dichter verbannt wissen wollte, weil diese die Realität durch Lügen entstellten. Als Corino auf die Möglichkeit zu sprechen kommt, dass Musil Herma mit Syphilis infiziert haben könnte, reagiert er sogar empört, dass der männliche Held in „Tonka“ nicht krank ist:
[…] zeigen, wie heftig Musil versuchte, den Verdacht gegen sich herunterzuspielen, – lässt er sich in der Novelle über Tonka doch sogar zu der (die Aporie des Lesers steigendern Behauptung) hinreißen [! CK], die Ärzte hätten an seinem Helden „ja nie eine Krankheit finden können“ (P 303).
Corino macht Musil den moralischen Vorwurf, dass er in einem literarischen Werk von einem biographischem Faktum abweiche, so als sei eine Novelle eine eidesstattliche Erklärung.
Diese mangelnde Differenzierung zwischen literarischen und anderen Dokumenten wird immer dann virulent, wenn Corino wenig andere Materialien hat, es aber nicht übers Herz bringt, größere Lücken in seiner Darstellung zu erlauben. Liegen genügend nicht-literarische Quellen vor, was erfreulicherweise die Regel ist, findet man in Corino einen hervorragenden Ausleger und Darsteller, der seinem „Forschungsobjekt“ auch mit hinreichender Distanz begegnet. Das Buch ist ein kaum mehr zu übertreffender Meilenstein in der biographischen Musilforschung, dessen Lektüre unbedingt lohnt.