Bücher 3 und 4 dtv-bibliothek
Wer wissen will, wie boshaft man Geschichte schreiben kann, der lese das dritte Buch des „Gottesstaats“. Augustinus unternimmt einen etwa fünfzigseitigen Parforce-Ritt durch die Historie des römischen Reiches. Zweck dieser Polemik ist es zu zeigen, dass die Römer ständig von ihren Göttern im Stich gelassen worden sind. Ein geschichtlicher Tiefpunkt nach dem anderen wird genüsslich beschrieben. Die Leitfrage: Wo waren eure Götter denn damals? Als Beispiel diene der Untergang der Stadt Sagunt während des zweiten Punischen Krieges:
Zunächst verschmachteten sie fast vor Hunger, denn es wird berichtet, daß manche Einwohner die Leichen der eigenen Angehörigen verzehrten. Sodann, von allen Mitteln entblößt, errichtete man, um nicht gefangen in Hannibals Hände zu fallen, auf freiem Platze einen gewaltigen Scheiterhaufen, zündete ihn an und ließ sich selbst nebst allen Angehörigen, zuvor mit dem Schwert durchbohrt, von den Flammen verzehren. Hier hätten doch die Götter, diese Schwelger und Nichtsnutze, die nach Opferfett gieren und mit trügerischen Prophezeiungen die Leute umnebeln, etwas tun sollen […] Diese Stadt, die ihrer Verpflichtung nachkam, die sie unter Anrufung der Götter eingegangen war und durch Treuwort und Eidschwur bekräftigt und geheiligt hatte, wurde von einem Wortbrüchigen belagert, überwältigt, vernichtet! [S. 150/151]
Augustinus argumentiert immer wieder mit der Theodizee. Richtet sich sein Scharfsinn gegen die römische Religion, wird der gütige Kirchenvater zum fulminanten Religionskritiker. Scharfzüngig und geistreich treibt er das „Heidentum“ vor sich her. Nahm Voltaire das Christentum brillant in die Mangel, so steht ihm Augustinus in Bezug auf seine Heiden um nichts nach.
Im vierten Buch wendet er sich dem antiken Götterwesen inhaltlich zu und setzt dabei ein kritisch-rationales Instrumentarium ein, das ihn den besten, nicht nur antiken Philosophen an die Seite stellt. Paradigmatisch sei die Argumentationsstrategie genannt, die sich mit den verschiedenen Zuständigkeitsbereichen der Götter befasst. Süffisant weist er auf logische Inkonsistenzen und inkohärente Aufgabenverteilungen hin. Anachronistischerweise ist ihm auch Ockhams Razor nicht fremd: Er versucht den Nachweis, dass die Glücksgöttin Felicitas religionsökonomisch völlig hätte ausreichen müssen. Wenn man auf allen Gebieten Glück hat, wozu braucht man dann noch Spezialgötter für Ernte und Krieg, Pflanzen und Liebe?
Sogar „naturwissenschaftliche“ Überlegungen führt er ins Feld: Wenn die Welt aus vier Elementen bestehe, reichten dann nicht auch vier Götter für alles aus (statt viele Dutzend)?
Beim Leser stellt sich nach und nach aber Ratlosigkeit ein: Wie ist es möglich, dass ein so scharfsinniger Kopf sein kritisches Instrumentarium nicht auf seine eigene Religion anwendet, sondern hier naiv dogmatisch bleibt? Würde er seinen logischen Werkzeugkasten gegen das Christentum einsetzen, bliebe von der neuen Weltreligion ebensowenig Plausibles übrig, wie vom römischen Polytheismus. Diese intellektuelle Schizophrenie ist ebenso erstaunlich wie rätselhaft.