Unsere Reiseroute führte automatisch zu einem Buddhismus-Schwerpunkt. Besser spräche man wohl allgemein von „Religion“, da die in China gelebte Praxis des Mahayana-Buddhismus im Alltag mit unzähligen traditionellen Elementen kombiniert wird, vom Daoismus bis zum Ahnenkult. Mit der klassischen Lehre des Gautama hat dies naturgemäß nichts mehr zu tun. Eine der grundlegenden Ideen des Buddhismus ist bekanntlich, sich die Erlösung durch die Zähmung des Begehrens zu erarbeiten. In der chinesischen Tempelpraxis dagegen werden an die höheren Mächte begehrlich zahlreiche Wünsche herangetragen: Wie in allen anderen Religionen auch belästigt man die Vertreter der Transzendenz mit Wünschen nach Gesundheit, Kindern und einem langen Leben. Sind diese Grundbedürfnisse adäquat adressiert, darf es aber auch gerne eine Wohnung oder ein neues Auto sein, dessen beschleunigte Manifestation man sich durch ein gezieltes Opfer erhofft. An dieser Stelle sei kurz eingeflochten, dass ein junger, gut ausgebildeter Pekinger auf die Frage, was die größten Wünsche seiner Generation seien, folgende Einschätzung abgab: Erst eine Eigentumswohnung für die eigene Familie, danach einen Wagen (Mittelklasse sollte es schon sein) und schließlich eine Reise nach Europa.
Ungezählte Tempel betrat ich in den drei Wochen. Die höchste Konzentration dieser Anlagen findet sich auf 2000 Meter Höhe in einem malerischen Bergtal am Wutaishan, einem buddhistischen Lourdes (Provinz Shanxi). Je nach Zählung findet man dort um die 40 Klöster, in denen sich noch kaum Europäer, dafür aber sehr viele asiatische Pilger tummeln. Herausgreifen möchte ich nur eines davon, das Nanshan Si (Kloster am Südberg). Wenig besucht liegt es idyllisch am Ende des Tales und eignet sich hervorragend, um den ungeheuren Eklektizismus der Religionsausübung zu illustrieren: Es finden sich Hallen nicht nur zu den üblichen Verdächtigen, nämlich vielen Bodhisattvas, die religionssoziologisch für die Chinesen eine ähnliche Rolle spielen, wie die Heiligen für die Katholiken. Zusätzlich existieren dort daoistische Hallen und – mein Lieblingsfundstück – eine Wandmalerei mit einer furiosen Höllendarstellung, die selbst Dante Freude gemacht hätte, aber im buddhistischen Kontext eigentlich nichts verloren hat. Vieles davon ist leider nicht frei zugänglich, aber dank sinologischer Begleitung brachten wir einen Mönch dazu, uns auch die für Touristen eigentlich geschlossenen Teile des Klosters zu zeigen (darunter die „Hölle“).