Höchste Zeit, einige Worte über diese ungewöhnlichen Bücher zu schreiben, die mich seit Mai mit Unterbrechungen beschäftigen. Bisher las ich die ersten drei von fünf Büchern. Sie gehören mit zu den ungewöhnlichsten meiner Leseerlebnisse. Als quer durch die Jahrtausende lesender Zeitgenosse entwickelt man ja gerne eine gewisse Blasiertheit und glaubt sich vor grundsätzlichen Überraschungen gefeit. Was hier Rabelais (1494-1553) jedoch zu Papier brachte, sprengt in mehreren Dimensionen bekannte Kategorien.
Natürlich schreibt auch Rabelais nicht im luftleeren Raum, weshalb sich eine Fülle von literatur- und kulturgeschichtlichen Bezügen herstellen lassen. Er bezieht sich so nicht nur auf eine Fülle von antiken Quellen und auf die Tradition des mittelalterlichen Ritterromans. Zusätzlich spielen auch zeitgenössische intertextuelle Verweise eine maßgebliche Rolle. Das fängt beim erfolgreichen Volksroman „Gargantua“ an, den Rabelais als thematische Grundlage verwendet, und hört bei zahllosen Anspielungen auf die Methoden und Ergebnisse des Gelehrtentums seiner Zeit nicht auf.
Eine Inhaltsangabe dieser sprachlichen Monstrosität lässt sich kaum geben. Rabelais setzt eine Familie von Riesen in ein teils zeitgenössisches Frankreich und in eine teils fantastische Welt. Die Riesen Gargantua (Vater) und Pantagruel (Sohn) erleben nun an lose erzählerische Muster orientiert („Entwicklungsroman“: Kindheit, Adoleszenz …; Aventiuren eines Ritters; Volksmärchen) eine Reihe von grotesken Abenteuern. Diese können von derb-obszöner Komik sein aber auch voll von bissiger Satire gegenüber den Zuständen seines Landes (Kirche, Klöster, Universitäten, Aberglaube). Höherer Blödsinn findet sich ebenso wie das rhetorisch brillante Pläydoyer für einen Renaissance-Humanismus (Brief Gargantuas an Pantagruel im achten Kapitel des zweiten Buches). En passant sei erwähnt, dass das zweite Buch „Pantagruel“ das erste Buch der Serie ist. Danach erst schrieb er „Gargantua“, das die Vorgeschichte erzählt, und deshalb in den modernen Ausgaben immer an erster Stelle steht, entgegen der Chronologie der Entstehung.
Die Einzigartigkeit dieses Werks besteht in der Sprache seines Autors. Mein Französisch ist nicht so perfekt, um das selbst in jeder Feinheit überprüfen zu können. Französische Philologen versichern jedoch, dass der Umfang der von Rabelais verwendeten Sprache in jeder Hinsicht einzigartig in der französischen Literatur sei. Er bedient sich nicht nur aller Sprachstufen von Obszönitäten aus der Gosse bis hin zur gelehrten Sprache der Scholastiker. Er transzendiert alle diese Sprachregister zugleich durch eine Fülle von kreativen Neologismen. Rabelais nimmt dabei keine Rücksicht auf Lesbarkeit: Die Sätze sprudeln in einer so dichten Fülle aus ihm hervor, dass es für den modernen Leser nicht immer einfach ist. Dazu tragen auch lexikograpische Orgien bei (lange, witzige Aufzählungen aller Art). Diese barocke Fülle macht andererseits auch wieder den größten Reiz von „Gargantua und Pantagruel“ aus.
Selbstverständlich erschöpft sich die Leistung des Rabelais nicht allein im Sprachlichen und Formalen. Er führt bezogen auf die Unsitten seiner Zeit eine so spitze Feder, dass man seinen Mut nur bewundern kann. Er feuert nicht nur polemische Breitseiten auf die von der Spätscholastik dominierte Pariser Universität ab. Auch Kritik an klerikalen Kindereien kommt nicht zu kurz. Er karikiert an den Haaren herbei gezogene Kriegsursachen und die Aufgeblasenheit der „besseren Gesellschaft“. „Gargantua und Pantagruel“ findet sich auf praktisch jedem Kanon der Weltliteratur. Das war einer der Gründe, warum ich mich dieses Werks jetzt annahm. Das belegt einmal mehr, dass eine kritische Orientierung an kanonisierten Büchern nicht schadet: Man wird durch tolle Entdeckungen belohnt.
Rabelais: Gargantua und Pantagruel (Zweitausendeins)