Als ich diesen Roman vor vielen Jahren zum ersten Mal las, war ich bereits nach wenigen Seiten von Doderers beeindruckender Sprachkunst eingenommen. „Die Strudlhofstiege“ nimmt seitdem einen herausragenden Platz in meinem Privatkanon ein. Würde eine zweite Lektüre daran etwas ändern? Seit längerer Zeit überprüfe ich derartige Leseerlebnisse, indem ich erneut zu prägenden Bücher greife. Die Ergebnisse waren unterschiedlich: So fand ich Dostojewskijs „Verbrechen und Strafe“ deutlich schwächer als beim ersten Mal, während die „Die Brüder Karamasow“ oder „Die Dämonen“ meinen Wiederholungsbesuch völlig unbeschadet bestanden. Natürlich gewinnen viele Bücher durch häufiges Lesen, da sich mit jedem Durchgang mehr Details zeigen und sich die Struktur der Werke besser erschliesst. In diese Kategorie würde ich, ohne Vollständigkeit anzustreben, die großen Romane Thomas Manns, den „Mann ohne Eigenschaften“, den „Faust“ und die „Wahlverwandtschaften“, Homers „Odyssee“ und Sophokles „Dramen“ geben.
Um das Ergebnis des neuen Leseexperiments vorwegzunehmen: „Die Strudlhofstiege“ scheint ebenfalls in die letzte Kategorie zu gehören. Die herausragenden Qualitäten des Romans zu benennen, ist gar nicht so einfach. Auf den ersten Blick spricht nicht weniges gegen ihn: Ein engmaschiges Geflecht zwischenmenschlicher Beziehungen auf 900 Seiten auszubreiten klingt nicht übermäßig spannend: Gelangweilte Damen der besseren Wiener Gesellschaft, Liebschaften und Rochaden auf allen Ebenen, Gefühlsduseleien von Gymnasiasten, pedantische Hofräte und Beamte …
Versuchte man, die Handlungsstränge wiederzugeben, würde man schnell „Völlig überladen!“ rufen. Doderer konnte selbst nur dadurch den Überblick bewahren, dass er riesige Pläne zeichnete. Anstatt sich aber bei der Lektüre dieser semantischen Monstrositäten zu langweilen, ist man fasziniert. Woran liegt das?
An der Sprache! Doderers barock-süffiger Stil hat in der deutschsprachigen Literatur nicht seinesgleichen und hob die österreichische Literatursprache auf neue Höhen. Das besondere Merkmal seiner Sprachkunst scheint mehr darin zu liegen, dass er barockes Überborden mit begrifflicher Präzision verbindet. Dadurch entsteht eine ungewöhnlich dichte Welthaltigkeit. Nimmt man noch Doderers Ironie hinzu, deren Abstufungen von sympathischer Distanziertheit bis zu beissender Satire er meisterhaft beherrscht, hat man eine erste Annäherung an seine Sprache.
Nun ist dieser Stil kein Selbstzweck, sondern wird von Doderer vor allem zu einem Ziel meisterhaft eingesetzt: Zur psychologischen Charakterisierung seiner Figuren. War Robert Musil der brillante Intellektuelle der österreichischen Literatur und sein „Mann ohne Eigenschaften“ dessen Manifestation, so ist Heimito von Doderer der brillante Psychologe. Wie er das Seelenleben seiner Figuren in allen Nuancen auslotet und mit welcher Raffinesse er Handlungen psychologisch motiviert, das gehört zum Besten, was die Weltliteratur hier zu bieten hat. Diese analytische Schärfe ist eine der Hauptursachen, warum man den an der Oberfläche vergleichsweise banalen Beziehungswirrwar mit größter Spannung folgt.
Doderer setzt sein Skalpell aber nicht nur auf der Ebene der Individuen an. Die Wiener Gesellschaft des ersten Fünftel des 20. Jahrhunderts liegt ebenfalls auf dem Seziertisch. Seine zahllosen köstlichen Einzelbeobachtungen summieren sich so nicht nur zu einem fulminanten Gesellschaftsbild, sondern auch zu einem prächtigen Porträt Wiens.
Führt man diese unterschiedlichen Ebenen zusammen, bemerkt man schnell: Der Roman „funktioniert“ eben durch seine Dichte so ausgezeichnet. Die auf den ersten Blick völlig überfrachtete Handlung passt zur sprachlichen und psychologischen Dichte des Romans. Der Leser erhält den Eindruck einer überbordenden Welthaltigkeit und Lebensechtheit, die sogar bei guter Literatur nur selten zu finden ist. Die selbst beim zweiten Lesen anhaltende Unübersichtlichkeit im Beziehungsgeflecht ist Teil der ästhetischen Strategie. Wäre ein „übersichtlicher“ Roman aus einer Großstadt der zwanziger Jahre künstlerisch glaubwürdig? Doderer entschied sich für einen anderen Weg als Döblin in „Berlin Alexanderplatz“ oder Joyce in „Ulysses“. Hier sollte die Unübersichtlichkeit der Moderne in erster Linie durch sprachliche und formale Mittel zum Ausdruck kommen: Die Architektur des realistischen Romans wurde nachhaltig aufgelöst. Doderer entschied sich für einen anderen Weg: Er blieb den Mitteln des klassischen Romans weitgehend treu und versuchte die Moderne ästhetisch durch ein extrem dichtes semantisches und strukturelles Geflecht adäquat zu treffen. Meiner Meinung nach gelingt ihm das auch ausgezeichnet, obwohl er sogar auf eine Art allwissenden Erzähler setzt, was gemeinhin als Todsünde eines modernen Autors gilt.
Heimito von Doderer: Die Strudlhofstiege (dtv)