Der grundlegende Fehler vieler literaturwissenschaftlicher Äußerungen liegt in dem Versuch, einen literarischen Text durch ‚Übersetzung‘ zu interpretieren – sei es, indem man seine eigene Interpretationssprache der Sprache des literarischen Gegenstandes anzuähneln versucht; sei es, indem man umgekehrt dem literarischen Text alltagssprachliche oder wissenschaftssprachliche Formulierungen als eindeutiges Sinnäquivalent zuordnen zu können glaubt. Beides beruht jedoch auf einer Verkennung des fundamentalen Unterschiedes zwischen literarischem und literaturwissenschaftlichem Sprechen.
(Harald Fricke, Literatur und Literaturwissenschaft)
Selbst wenn man der Meinung ist, Klassiker verdienten bei der Lektüreauswahl den Vorzug, beantwortet das noch nicht die Frage, wie man sie am besten liest. Die Beachtung der historischen Differenz ist nur einer von mehreren Aspekten. Mit diesem Interesse im Hintergrund begann ich die achtzehnstündige Vorlesungsreihe „Books That Have Made History: Books That Can Change Your Life“ anzuhören. Die Behandlung von fünfunddreißig „great books“ war angekündigt, darunter viele aus dem Kern des Kanons. Was der in Harvard ausgebildete Prof. J. Rufus Fears jedoch bietet, ist eine Enttäuschung. Er beschränkt sich weitgehend auf den Inhalt der Bücher und klopft diese nach menschlichen Sinnfragen ab: Wie soll man es mit Gott halten? Wie mit der Geschichte? Wie mit der Moral? Wie führt man ein gutes Leben? usw. Die Herangehensweise an die einzelnen Werke ist überraschend naiv. Die Idee, dass man vor allem auch aus den Differenzen viel Erhellendes erkennen könnte, liegt Fears denkbar fern. Auf eine Metaebene begibt er sich nur selten. Dabei sollte man ja gerade das kritische Denken durch die Klassiker lernen. Das heißt nun nicht, dass der Kurs nicht angenehm anzuhören wäre. Immerhin bekommt man sehr pointiert eine Zusammenfassung vieler Klassiker präsentiert. Insgesamt aber eine vergebene Chance.
Man sollte gerade diese berühmten Bücher immer auch kritisch lesen. Ihr Wert besteht nicht zuletzt darin, dass sie auf höchstem intellektuellen Niveau provozieren. Ihre Lehre besteht nicht darin, irgendwelche Werte aus ihnen herauszuklauben (obwohl diese Lesart als „Nebenprodukt“ legitim ist), sondern in der Vermittlung des selbständigen Denkens. „Kritische Lektüre“ schließt ein möglichst genaues Verständnis mit ein. Auf keinen Fall ist damit das primitive „great books bashing“ gemeint, dass von Anhängern der Postmoderne gerne betrieben wird. Deren „Dekonstruktion“ basiert nicht selten auf blankem Unverständnis.