Israel, Ende Februar – Ein Kulturbrief [2006]

Pünktlich landet der Flug OS 0857 in Tel Aviv, und die Stewardess spult mit üblicher Routine ihre Hinweise über die möglichen unerwünschten Auswirkungen der Schwerkraft auf das Handgepäck ab. Abweichend vom Standardtext wünscht sie den Passagieren schließlich keine „pleasant“, sondern „a safe journey“. Willkommen im Nahen Osten.

Die Palästinenser entschlossen sich vor wenigen Wochen, ihre politische Zukunft den Islamisten der Hamas anzuvertrauen. Der Karikaturenstreit überschritt den ersten Höhepunkt und man wurde des Flaggenverbrennens langsam überdrüssig. Die mediale Mobilmachung von CNN & Co. noch im Bewusstsein, will ich dieser Inszenierung eigene Erfahrungen entgegen setzen.

Ist man als Europäer tatsächlich das neue Feindbild in der arabischen Welt? Abgesehen vom Gazastreifen und der Westbank, bietet Ost-Jerusalem wohl die beste Gelegenheit, mit Arabern ins Gespräch zu kommen. Mein Hotel „The Olive Tree“ liegt im besetzten Osten der Stadt, unweit des arabischen Teils der Altstadt. Die Warnungen der deutschen Obrigkeit in den Wind schlagend, welche große Vorsicht beim Besuch der historischen Viertel dringend ans Herz legte, spaziere ich durch das Damaskustor in das Gassenlabyrinth. Schon bald nähert sich mir eine Gruppe arabischer Jugendlicher. Mich skeptisch musternd kamen sie langsam näher, um mir dann lachend ein „Welcome in Jerusalem“ zuzurufen. Animositäten gegen Europäer kann ich trotz ausgiebiger Fußmärsche nicht beobachten. Die Stimmung auf arabischer Seite ist gedrückt, was angesichts der Omnipräsenz des israelischen Militärs wenig überrascht. Größere Gruppen junger Wehrpflichtiger mit ihren Sturmgewehren auf dem Rücken patrouillieren durch die engen Gassen. Die Schaufenster, die ab und zu mit großen Portraits Arafats geschmückt sind, scheinen sie nicht zu stören.

Die Allgegenwärtigkeit von Waffen ist für in Mitteleuropa sozialisierte Menschen verblüffend. Junge Rekruten sind stets in voller Bewaffnung auf der Straße unterwegs. Selbst am Frühstücksbuffet des Ramon Inn, seines Zeichens das einzige Hotel in der verschlafenen Wüstenstadt Mizpe Ramon, holen sich zwei junge Männer mit umgehängtem Gewehr ihr Gebäck. Schulklassen müssen laut Gesetz von mindestens zwei bewaffneten Erwachsenen begleitet werden, so dass es schon Sechsjährigen nicht verborgen bleiben kann, dass sie ihres Lebens nicht sicher sind. Israel erweckt von den Golanhöhen im Norden bis zum vierhundert Kilometer entfernten Eilat am Roten Meer den Eindruck großer Wehrhaftigkeit. Allzeit zu allem bereit scheint das Motto vor allem der Jugend zu sein. In Yad Vashem weist mich ein Angestellter darauf hin, dass es viele Jugendliche nur schwer akzeptieren könnten, dass die europäischen Juden dem Völkermord nicht mehr Widerstand leisteten. In Zukunft nie mehr wehrlos sein zu wollen, ist offenkundig wichtiger Teil der Mentalität der jungen Israeli.

Die ständigen Sicherheitskontrollen verschärfen diesen Eindruck zusätzlich. Selbst beim Besuch eines Dorfgasthauses in En Kerem muss man seine Taschen entleeren und erträgt geduldig das Piepsen des Metalldetektors.

Es lasse sich kaum Geld verdienen, erklärte mir ein junger Jerusalemer Taxifahrer, um anschließend ausgiebig über die schlechte allgemeine wirtschaftliche Lage zu klagen. Ein fliegender Souvenirverkäufer, der trotz der wenigen Touristen in Jerusalem sein Glück versucht, erzählt mir, er komme eigentlich aus Bethlehem, wo angesichts der angespannten Lage nun die Touristen schon wieder ausblieben, und er nicht wisse, wie er seine Familie ernähren soll. In der zweiten Jahreshälfte 2005 kam der Tourismus langsam wieder in Schwung. Es wird sich weisen, ob das nur eine kurze Unterbrechung der jahrelangen Flaute war.

Während der klassische Tourist seit der zweiten Intifada Israel als Reiseziel mied, galt dies nur eingeschränkt für Pilger. Wer mit göttlichem Beistand reist, sieht offenbar potenzielle Gefährdungen weniger dramatisch. Überhaupt dürfte es weltweit kein Land geben, in dem sich eine so große Vielfalt an Religionen samt ihren Anhängern beobachten lässt. Allein in Jerusalem sind die Varianten des Christentums kaum zu zählen. Wer im komplexen Geflecht der feinen theologischen Unterschiede den Überblick verliert, kann sich vertrauensvoll an das „Christian Information Center“ beim Jaffator wenden. Die Eifersüchteleien der einzelnen Konfessionen über die Heiligen Stätten sind legendär und wurden mit der religiösen Streitereien eigenen Verbissenheit geführt. 1757 versorgten griechische Mönche beispielsweise ihre Anhänger mit Waffen und metaphysischer Munition, worauf diese in der Nacht vor Palmsonntag nicht nur Vandalenakte in der Basilika des Heiligen Grabes verübten, sondern im Anschluss daran auch noch das Kloster der Minoriten stürmten, um die Mönche zu massakrieren. 1873 und 1901 kam es zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen griechisch-orthodoxen und katholischen Mönchen. Wer sich für diese und andere Akte der Nächstenliebe interessiert, dem sei Bernard Wassersteins Monographie „Jerusalem. Der Kampf um die heilige Stadt“ (München 2002) empfohlen. Der Schlüssel der Grabeskirche wird deshalb sinnigerweise seit vielen Generationen von einer moslemischen Familie verwahrt. Raufereien zwischen kirchlichen Würdenträgern konnte ich nicht beobachten. Sogar die beiden Malteser Ritter mit ihren pittoresken weißen Umhängen hatten ihre Schwerter zu Hause gelassen. Aber trotz der ungeheuren Zahl an Kirchen in der Jerusalemer Altstadt stellt man unschwer fest, dass die konfessionellen Einflusssphären streng abgegrenzt sind. Am augenscheinlichsten schlägt sich das in den verschiedenen Räumen der Grabeskirche nieder. Durch die vielen Anbauten entstand ein architektonischer Moloch, der zwar hintersinnige religionsphilosophische Analogien nahe legt, aber Freunde der Baukunst nur den Kopf schütteln lässt.

Die christlichen Stätten im Norden sind weniger beeindruckend. Rund um den See Genezareth gibt es in Kafarnaum (Kefar Nahum) eine sehenswerte Ausgrabungsstätte. Es handelt sich um ein Fischerdorf aus der Zeit des Neuen Testaments. Die Strukturen der Wohnhäuser sind gut erkennbar. Daneben das (angebliche) Haus des Petrus, der bekanntlich sofort die Gelegenheit ergriff, seinen mühseligen Fischerberuf samt Familie zu verlassen, und sich auf den bequemeren Beruf des Apostels verlegte.

Unweit davon, auf dem Hügel Schech‘ Ali (Berg der Seligpreisungen), dem legendären Ort der Bergpredigt, befindet sich die in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts von Antonio Baluzzi errichtete elegante Kirche. Innen singt, nein schreit eine vermutlich südkoreanische Pilgergruppe, offenbar in der Annahme, im Himmel gäbe es keine Hörgeräte. An vielen dieser christlichen Stätten sind nur moderne Gebäude mit bescheidenen ästhetischen Qualitäten zu finden. Deshalb ist es oft lohnender, anstatt der Bauwerke die Pilger zu beobachten.

An Nazareth lässt sich schön eines der Prinzipien der historischen Jesusforschung demonstrieren. Es besagt, dass Überlieferungen, für deren Erfindung es keinen guten Grund gibt, mit höherer Wahrscheinlichkeit authentisch sind, als andere. Nazareth war zu Zeiten Jesus‘ ein unbedeutendes Dorf, das im Alten Testament nicht erwähnt wird. Es gab also keinen ideologisch plausiblen Grund, Jesus ausgerechnet in diesem Kaff aufwachsen zu lassen.

Synagogen gibt es in Jerusalem ebenfalls in großer Anzahl. Nach der Besichtigung unzähliger Kirchen benötigt man etwas Zeit, um sich vom Entblößen des Kopfes als Respektbekundung auf das Bedecken desselben zum selben frommen Zweck umzustellen. Wer sich mit der Geschichte des Synagogenbaus beschäftigen will, sollte unbedingt das Israel Museum besuchen, in dem man drei historische Innenräume mit Originalteilen rekonstruiert hat. (indisch, italienisch und bayerisch).

An der Klagemauer herrscht Hochbetrieb. Neben den zahlreichen Betenden findet dort eine Bar Mizwa statt. Als junger Katholik erhält man als Zeichen der Vollmitgliedschaft von seinem Bischof eine symbolische Ohrfeige, auf das kein Zweifel über die Autoritätsverhältnisse bestehe. Eine Bar Mizwa dagegen läuft als fröhliches Fest ab. Die Stimmung ist heiter und ausgelassen. Der Junge wird lachend von Verwandten auf den Schultern getragen. Andere lassen Süßigkeiten auf die Feiernden herabregnen.

Nun sind, schon aus Gründen der religiösen Ausgewogenheit, noch ein paar Worte über den Islam angebracht. Während es Juden von ihrem Rabbinat streng verboten ist, den Tempelberg zu besteigen, darf man als Reisender am Morgen dieses berühmte Wahrzeichen der Stadt kurz betreten. Jerusalem gilt im Islam (nach Mekka und Medina) als die drittheiligste Stadt und ist damit selbstverständlich auch das religiöse Zentrum der Muslime in Israel. Leider kann man die Al Aqsa Moschee seit Ausbruch der zweiten Intifada nicht mehr besichtigen.

Steht man auf dem Tempelberg mit der Klagemauer unter sich und den zahlreichen Kirchen in der Altstadt vor sich, denkt man zwangsläufig über die Zukunft dieser außergewöhnlichen Stadt nach. Der Blick fällt auf die schwer bewaffneten Soldaten und die Gedanken kreisen um den gordischen Knoten des religiösen und politischen Hasses. Skeptisch steige ich hinab in die turbulente Altstadt und versuche, die Erkenntnis beiseite zu schieben, dass die Jerusalemfrage noch sehr lange die Weltöffentlichkeit beschäftigen wird.

[Literatur und Kritik Mai 2006; © Christian Köllerer]

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