oder: Wie wichtig sind Details in Romanen?
Anlässlich unseres Twitter-Projekts im Theater Reichenau, entspann sich eine Diskussion, inwiefern die Korrektheit von Details für die Qualität von Literatur von Bedeutung sei. In 140-Zeichen-Tweets ließ sich diese Frage nicht ausdiskutieren, deshalb hier einige Gedanken dazu.
Über das Verhältnis von Fiktion und Realität wurden viele Bücher geschrieben. Neben viel Geschwurfel sind auch einige sehr instruktive darunter, nicht nur, aber vor allem von semiotischer und strukturalistischer Seite. Wie wichtig die Bodenhaftung von Literatur in der Wirklichkeit ist, hängt natürlich in erster Linie vom Genre ab. Viel Freiheit genießen hier Gattungen wie das Märchen oder Genres wie Fantasy. Ähnliches gilt für experimentelle Literaturformen aller Art. Hier können selbst logische „Grundgesetze“ außer Kraft gesetzt werden, wie Harald Fricke in seinem vorzüglichen literaturtheoretischen Standardwerk Norm und Abweichung ausführlich demonstrierte.
Anders bei der Literatur, die man (etwas naiv) gerne als „realistisch“ bezeichnet. Romane, welche man diesem Genre gerne zuschlägt, sind beispielsweise Gesellschafts- oder Zeitromane. Fontanes Effi Briest wäre ein prominentes Beispiel, Dickens Oliver Twist ein weiteres. Überhaupt kann man die meisten berühmten Romane des 19. Jahrhunderts in diese große Schublade packen. Die Erwartungshaltung der Leser ist bei diesen Büchern, dass sich der Autor an gewisse implizite Gesetzmäßigkeiten hält. Hätte Thomas Mann in einer seiner Erzählungen den Eiffelturm in München aufgestellt, hätten das seine Leser vermutlich nicht goutiert.
Wie funktioniert Literatur? Der Autor gibt seinem Leser semantische Markierungen mit auf den Weg, mit deren Hilfe sich der Leser seine fiktionale Welt zusammenbastelt. Das Ergebnis sieht je nach den kognitiven Voraussetzungen des Lesers unterschiedlich aus. Ein zeitgenössischer Thomas-Mann-Leser, der noch nie etwas von Paris gehört hätte, und auch München nicht gut kennt, würde sich durch einen Eiffelturm im Zentrum nicht gestört fühlen. Deshalb konstruiert man für solche Analysen besser eine Art „idealen Leser“, den man mit genügend Wissen ausstattet, damit eine hinreichend „mächtige“ fiktionale Welt entstehen kann.
Auslöser unserer kleinen Debatte war der in Kehlmanns Ruhm in Zentralasien ständig servierte Schweinsbraten (siehe meine Rezension). Die meisten Leser Kehlmanns werden Zentralasien nicht kennen und dürften sich deshalb von dieser „falschen Wirklichkeit“ nicht weiter gestört führen. Wer aber je diese Gegend bereiste, für den zerbröselt diese Fiktion, und er wird aus seinem realistischen Lesemodus heraus gerissen. In der Moderne übrigens ein durchaus gängiges narratives Verfahren.
Nun stellt sich spätestens hier die Frage: Ist Kehlmanns Ruhm „realistische“ Literatur? Die Metafiktionalität spräche doch eigentlich gegen ein so „naives“ Verständnis des Textes? Dieser Einwand greift aber zu kurz. Alle Geschichten des Romans setzen sich augenscheinlich intensiv mit der Gegenwart auseinander. Was hat der Autor nicht alles hinein gepackt: Aktive Sterbehilfe in der Schweiz, die Unerträglichkeit des Kulturinstitutstourismus, unsichere Fluglinien, Zwang zu unlogischen Flugbuchungen, inkompetente Call-Center-Angestellte, entführte Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, Kulturkritik an schlechten Filmen durch Massenproduktion, korrupte afrikanische Minister, frustrierte Ex-Pats in Lateinamerika, indolente Beamte eines zentralasiatischen Staates, die Verseuchung des Buchmarkts mit esoterischen Publikationen…
Kurz: Der Roman ist vollgepackt mit praller „Wirklichkeit“ und bezieht sein „oberflächliches“ Funktionieren in erster Linie aus dieser Ebene. Der „ideale Leser“ erwartet bei den meisten dieser Geschichten, dass die Fakten stimmen. Gegen Ende wird das zwar mit dem Unprofor-Fehler metafiktional aufgelöst, bei den anderen Geschichte ist diese Distanz aber semantisch „unterdeterminiert“. Es gibt zu wenige Signale selbst für den „idealen Leser“, dass ihm eine relativierende, antirealistische Lesart aufgedrängt würde.
Womit wir wieder beim fiktionalen Schweinsbraten angelangt wären. Die Wirkung der Geschichte beruht darauf, dass Maria in einem exotischen Land verloren geht. Ein emotionaler Effekt stellt sich für den Leser nur dann ein, wenn er in einem realistischen Erzählmodus liest. Läse er die Geschichte im metafiktionalen Modus, gäbe es keine Empathie für Maria. Die Geschichte würde nicht „funktionieren“. Der falsche Schweinsbraten zwingt einen wohl informierten Leser aus dem realistischen Lesemodus heraus und zerstört die literarische Wirkung ohne dass er einen ästhetischen Mehrwert dadurch hätte.
Ich halte es in dieser Sache eher mit Aristoteles, der in der Poetik sagt:
„Außerdem ist die Richtigkeit in der Dichtkunst nicht ebenso beschaffen wie in der Staatskunst, und überhaupt ist sie in der Dichtkunst nicht so beschaffen wie in irgendeiner anderen Disziplin. Im ganzen gibt es in der Dichtkunst zwei Arten von Fehlern: die eine bezieht sich auf die Dichtkunst an sich, die andere auf etwas, das die Dichtkunst nur zufällig berührt. Denn wenn sich ein Dichter etwas richtig vorgestellt hat, um es nachzuahmen, und er es aus Unfähigkeit nicht richtig nachahmt, dann liegt ein Fehler der Dichtkunst selber vor. Wenn es sich jedoch etwas nicht richtig vorgestellt hat, z.B. ein Pferd, das gleichzeitig seine beiden rechten Beine nach vorn wirft, oder wenn er nach Maßgabe einer bestimmten Disziplin, z.B. der Medizin oder einer anderen Wissenschaft, einen Fehler gemacht hat, oder wenn er irgendwelche Dinge dargestellt hat, die unmöglich sind, dann liegt kein Fehler in der Dichtkunst an sich vor.“ (Aristoteles: Poetik. Übers. u. hg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart: Reclam 1982, S. 87)
Sehe jetzt nicht, inwiefern das im Gegensatz zu meiner Notiz steht. Abgesehen davon hat sich auch die Literaturtheorie seit Aristoteles weiterentwickelt, wie die Mathematik, Logik oder Botanik, um weitere Fächer zu nennen, mit denen sich Aristoteles beschäftigt hat.
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