… oder soll man noch Klassiker lesen?
Seit der Renaissance war ein wichtiger Bestandteil der gehobenen Allgemeinbildung, Klassiker zu lesen. In erster Linie sollte man die antiken Autoren im Original gelesen haben. Dieses humanistische Bildungsideal wurde bei den gesellschaftlichen Eliten bis weit ins 20. Jahrhundert hinein beibehalten. Immer ergänzt durch weitere kanonisierte Autoren: Shakespeare, Goethe und Schiller sind hier prominent zu nennen.
Was versprach man sich davon? Ich denke, man kann die Motive auf drei Gründe reduzieren: Kenntnis des nationalen und europäischen Kulturerbes (mit entsprechender ideologischer Aufladung), Abgrenzung einer Bildungselite nach unten, und die Hoffnung, durch Bildung besonders edle Charaktere zu formen. So schön diese Hoffnung auch war, dass der Mensch durch (klassische) Bildung edel hilfreich und gut würde, speziell die deutsche Geschichte zeigt das Gegenteil. Regelmäßige Goethe-Lektüre schloss eine SS-Mitgliedschaft ebenso wenig aus, wie eine Altphilologie-Professur das Hinausmobben jüdischer Kollegen aus deutschen Universitäten. Edle Taten fanden sich dafür ebenso bei humanistisch völlig ungebildeten Menschen. Goebbels war als Germanist ebenfalls ein großer Kenner der Klassiker. Ich neige deshalb der These zu, dass (klassische) Bildung zwar bereits vorhandene Charaktereigenschaften in Menschen beeinflussen kann, sie aber auf keinen Fall ausreicht, Menschen allgemein von unmoralischen Taten abzuhalten oder sie zu moralischen Taten zu motivieren.
Abgrenzung durch klassische Bildung als Statussymbol funktioniert heutzutage auch immer weniger. Im Österreich des 21. Jahrhunderts kann man sich damit eher als jemand profilieren, der einen seltsamen Spleen hat. Goethe-Leser? Das ist aber ein originelles Hobby! Ich selbst lerne gerade Aikido…
Plausibel von den ursprünglichen drei Motiven bleibt als die Kenntnis des eigenen Kulturerbes. Wie im ersten Teil ausgeführt halte ich das im Sinne eines abstrakten Überblickswissen für sinnvoll.
Warum also sollte man 2020 noch Klassiker lesen? Anders formuliert: Welchen Nutzen bringt die Klassikerlektüre dem Einzelnen oder gar der Gesellschaft?
Klassiker zu lesen und zu verstehen, ist eine Fähigkeit wie viele andere, die man zumindest einige Jahre lang trainieren muss. Eine passende Analogie ist vielleicht das Schachspiel. Die Regeln sind schnell gelernt. Ein oberflächliches Verständnis über strategische Grundzüge des Spiels ebenfalls. Ein wirklich guter Spieler zu werden setzt neben Talent aber sehr viel Aufwand voraus. Je mehr man spielt, je ausführlicher man sich mit der „Mechanik“ des Schach beschäftigt, je öfter man Partien analysiert, desto besser wird man werden. Bis man die Feinheiten einer Stellung oder die Finessen eines über viele Züge gehenden Manövers zu würdigen weiß, können viele Jahre vergehen. Eine weitere Analogie wäre das Erlernen einer Fremdsprache.
Es gibt auch unterschiedliche Schwierigkeitsgrade. Ein verständnisvolles Lesen der Romane des 19. Jahrhunderts ist früher möglich, als ein verständnisvolles Lesen von antiker, mittelalterlicher oder frühneuzeitlicher Literatur. Dickens ist weniger fremd als Homer, Dante oder Shakespeare.
Der Deutschunterricht ist beim Erlernen dieser Fähigkeit eher hinderlich als hilfreich, aber das wäre ein anderes Thema. Warum ist Klassiker-Lektüre so kompliziert? Weil der Gegenstand auf mehreren Ebenen komplex ist. Vergleichsweise banal ist die Notwendigkeit, intellektuell größere Zeiträume zu überwinden, was ein gewisses Kontextwissen voraussetzt. Auch das fiktionale Lesen an sich stellt nicht die größte Herausforderung dar. Wer den Abenteuern Harry Potters zu folgen vermag, der schafft das prinzipiell auch bei „Wilhelm Meister“. Die Hauptschwierigkeit liegt im Kern der Sache begründet, wie Klassiker funktionieren. Ein detaillierter Beschreibungsversuch findet sich im entsprechenden Abschnitt meiner Dissertation. Qualitätsvolle Literatur macht es dem Leser quasi aus Prinzip schwer, ihm zu folgen. Gute Literatur erfindet sich formal ständig neu, variiert das Alte und hebt es auf eine neue Komplexitätsstufe. Widerborstigkeit ist ein Kernbestandteil von Klassikern. Sie sind meist seltsam, ungewöhnlich und schwer in vorhandene Erfahrungsraster einzuordnen. Kognitionspsychologisch gesprochen: Es fehlt an den notwendigen Frames. Wir Menschen wollen aber gerne alles sofort in vorhandene Schubladen legen. Ist das nicht möglich, löst das Irritation und oft Ablehnung aus. Das gilt auch für andere Kunstsparten. Beispielsweise wurde die Musik Mozart von den Zeitgenossen zunächst als ungewöhnlich schwierig empfunden.
Klassiker lesen lernen heißt auf einer abstrakten Ebene, mit diesen Komplexitäten umgehen zu können. Man lässt sich nicht nur auf Unbekanntes, Herausforderndes und „Schwieriges“ ein, sondern hat daran sogar Vergnügen. Dieses Können bringt den Einzelnen individuell weiter und nützt auch der Gesellschaft, weil kognitive Komplexitätsbewältigung und Ausdauer eine wichtige Voraussetzung für Erfolge aller Art ist. Kurz sei noch angemerkt, dass Weltliteraturleser zwangsläufig zu Weltbürgern werden.
Einzigartig sind Klassiker noch in einer weiteren Hinsicht: Man kann Fremdes aus der Innensicht kennenlernen. Natürlich kann man sich Wissen über eine Zeit oder ein Land durch Sachbücher aneignen. Aber egal wie viele Studien und Aufsätze man über den Landadel in England um 1800 liest oder über das Stadtleben in Paris der 1830er Jahre: Man wird dadurch nie einen vergleichbaren Einblick bekommen wie durch die Lektüre der Romane Jane Austens oder Honoré de Balzac‘. Das gilt nicht nur für vergangene Zeiten, sondern auch für andere Kulturen in der Gegenwart.
Klassiker-Lektüre im Jahr 2020? Selbstverständlich!
Wie sie schreiben, ist die Schule der weitergehenden Klassikerlektüre doch eher hinderlich, da durch verbohrte Lehrer jegliche Eigeninterpretation verhindert wird, bzw. durch krampfhaftes Auswendiglernen z.B. Schillerballaden jedes Interesse an weiterführender Lektüre im Keim abgewürgt wird, ich selbst habe mehr als 10 Jahre nach der Schule mir Schiller erstmals wieder zu Gemüte geführt, bei anderen jüngeren wie älteren „Klassikern“ der Schullektüre ging es mir ähnlich
Der Literaturunterricht gehörte völlig reformiert. Das Interpretationswesen ist ja auch seit Jahrzehnten wissenschaftlich veraltet. Inzwischen weiß man, dass man Literatur nicht einfach in „Interpretationen“ übersetzen kann.