Die Lektüre von The Caucasus beendet vorläufig meine Beschäftigung mit dieser Weltregion, über die ich vor meiner Armenienreise im Mai kaum mehr wusste als ich den Klassikern der russischen Literatur darüber entnahm. Die russische Literatur stilisiert den Kaukasus bis weit ins letzte Jahrhundert hinein bekanntlich zu einem beinahe mythologisch aufgeladenen Ort. Tatsächlich ist er aus vielen Gründen eine intellektuell faszinierende Gegend. Auf engstem Raum leben seit Jahrtausenden unzählige Ethnien zusammen, und es werden jede Menge unterschiedliche Sprachen gesprochen. Christentum und Islam treffen in unterschiedlichen Ausprägungen aufeinander. Kurz, es ist eine Region, in der viele historische Prozesse wie unter Zeitraffer ablaufen: Ein Laboratorium der Geschichte. Man kann beispielsweise studieren, wie sich neue Nationalismen auf ehemalige Vielvölkerstaaten auswirken, oder wie sich der plötzliche Wegfall von Großmächten (Osmanisches Reich, Sowjetunion) auswirkt.
Thomas de Waal beschreibt die jüngere Geschichte des Kaukasus anschaulich und ausführlich. Armenien, Georgien und Aserbaidschan stehen im Mittelpunkt der Darstellung. Sein Schwerpunkt liegt auf dem zwanzigsten Jahrhundert und der unmittelbaren Zeitgeschichte. Es beschreibt im Detail den Konflikt um Berg Karabach, der den Kaukasus jederzeit wieder in einen neuen Krieg führen kann. Nach meinen Recherchen gibt es derzeit kein besseres Buch über den Kaukasus. Wer ein Faible für ungewöhnliche Themen hat oder meiner dringenden Armenienreiseempfehlung folgen will, sollte es lesen.
Thomas De Waal: The Caucasus. A Introduction (Oxford University Press)