Katherine Boo: Behind the Beautiful Forevers: Life, death, and hope in a Mumbai undercity

Wenig dürfte der Lebenswelt des durchschnittlichen Europäers fremder sein als der Alltag in einem indischen Slum. Millionen Verlierer bei der jährlichen Geburtslotterie werden in einer dieser tristen Hüttensiedlungen geboren statt in Berlin, Buxtehude oder Bremen und Ihr Leben ist damit bis zum Ende determiniert. Wir Westler haben viele Klischees über das Leben in Slums im Kopf, nicht alle sind wahrheitsfern. Die Journalistin Katherine Boo, die seit vielen Jahren für den New Yorker schreibt, beobachtete über mehrere Jahre das Leben im Slum Annawadi, das unmittelbar am Flughafen von Mumbai liegt, umrahmt von diversen Luxushotels. Das Ergebnis ist eines der eindrücklichsten Sachbücher, das ich seit langem las. Sie zieht eine Reihe der Menschen dort aus der Anonymität der Armut heraus und lässt ihre Leser an deren Alltag teilhaben. Wir begleiten Jungen beim Müllsammeln, Mädchen unterwegs zur Zwangsheirat, Slum-Honoratioren beim Umgang mit der Polizei, kleine Diebe bei der Arbeit und nehmen an kleinen und großen Dramen dort teil.

Boo setzt sich selbst hohe journalistische Standards:

I witnessed most of the events described in this book. I reported other events shortly after they occurred, using interviews und documents. For instance, the account leading to the self-immolation, and its immediate aftermath, derives from repeated interviews of 168 people, as well as records from the police department, the public hospital, the morgue and the courts.

Eine große Stärke des Buches: Boo moralisiert nicht, ist nie empört. Sie berichtet die Ereignisse im Leben der Slumbewohner, oft aus deren Perspektive, wofür sie erlebte Rede verwendet. Beim Lesen ist man verblüfft wie viel Kreativität und Überlebensenergie einige dieser Menschen mitbringen. Mit dem richtigen Umfeld und der richtigen Ausbildung wären viele von ihnen stolze Start-Up-Begründer anstatt Zwischenhändler für Kinder, die Müll sammeln müssen. Wie viel Potenzial hier der Menschheit verloren geht, kann man nur erahnen. Es gibt kleine und große Helden, Empathie und Selbstlosigkeit.
Andererseits lässt sich auch das Homo Homini Lupus aus Thomas Hobbes Leviathan „live“ verfolgen. Der alltägliche Überlebenskampf bringt jede Menge Grausamkeiten und Verzweiflungstaten mit sich. Besonders abstoßend ist die Korruption. Polizisten erfinden Anklagen, um von den Ärmsten Geld zu erpressen. Krankenhausärzte kassieren für lebensnotwendige Medikamente, die es nicht gibt. Jedes internationale und staatliche Programm zur Verbesserung der Lage füllt die Taschen so vieler Offizieller, dass am Ende nichts übrig bleibt.

Ich beschränke mich hier auf ein einziges drastisches Beispiel, was Armut psychisch anrichten kann:

A few weeks ago, Abdul had seen a boy’s hand cut clean off when he was putting plastic into one of the shredders. The boy’s eyes had filled with tears but he hadn’t screamed. Instead he’d stood there with his blood spurting stump, his ability to learn a living ended, and started apologizing to the owner of the plant. „Sa’ab, I’m sorry“, he’d said to the man in white. „I won’t cause you any problems by reporting this. You will have no trouble from me.“

Statt der Wehrpflicht oder eines sozialen Jahrs sollte jeder Europäer einmal drei Monate in einem indischen Slum leben müssen. Das könnte die Welt verändern.

Katherine Boo: Behind the Beautiful Forevers: Life, death, and hope in a Mumbai undercity (Random House)

Deutsche Ausgabe: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Webseite zum Buch

Ein Gedanke zu „Katherine Boo: Behind the Beautiful Forevers: Life, death, and hope in a Mumbai undercity

  1. Ein Slum-Praktikum? Interessante Idee, sehr idealistisch. Sind Sie denn schon mit gutem Beispiel vorangegangen? Womöglich sollte man die Teilnehmer zunächst gezielt auswählen. Zum Beispiel wurde vor einigen Monaten recht viel über Hungersnot und Flüchtlingslager in Somalia/Äthiopien berichtet. Dicht daneben stand dann einmal die Meldung, dass der junge Champion der Formel-1 nach errungenem Titel sein Team ermahnt hatte, sich nicht auf den Lorbeeren auszuruhen, sondern: „Wir müssen den Hunger bewahren.“ Da dachte ich, dass es sinnvoll wäre, ihn ein paar Wochen lang in so einem Lager unterzubringen, zu den dort üblichen Bedingungen. Danach würde er vielleicht keine solchen peinlichen Phrasen mehr dreschen.

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