Eine Reise im Mai 2012
Armenien zählt zu jenen Ländern über die ich von Reisenden fast ausschließlich Positives zu hören bekam. Womit selbstverständlich nicht gemeint war, dass es dort keine sozialen und wirtschaftlichen Probleme gäbe – das Gegenteil ist richtig. Armenienreisende preisen Land & Leute aus kulturellen Gründen.
Wer dieser Tage nach Jerewan fliegt, der kommt aus fluglogistischen Gründen meist in tiefer Nacht an. Um drei Uhr ist am Flughafen dort ein ähnlicher Betrieb wie in Wien um acht Uhr morgens. Die erste Überraschung nach der Ankunft ist die Hauptstadt, welche mit 1,2 Millionen Einwohnern das kleine Land – nur um ein Drittel größer als Niederösterreich – dominiert. Das Zentrum ist, trotz einiger heruntergekommener Ecken, so modern, dass viele Plätze mit schicken Boutiquen und Restaurants ebenso in einer westeuropäischen Großstadt liegen könnten. Verblüffend auch die Hauptstadtbewohner, deren Mentalität eine Mischung aus skandinavischer und südländischer zu sein scheint. Südländisch, was das Straßenleben angeht. Selbst nach Mitternacht sind noch Familien mit kleinen Kindern unterwegs. Skandinavisch, was vornehme Zurückhaltung angeht. So ist der Straßenverkehr so chaotisch wie in Neapel, allerdings wird kaum gehupt. Auf Kreuzungen bilden die Autos pittoreske anarchische Knoten, die sich friedlich in Stille wieder auflösen. Ein aufdringlicher Armenier ist mir während der gesamten Reise nicht begegnet.
Die alltägliche Armut in Jerewan spielt sich in den heruntergekommenen Plattenbauvierteln um das Zentrum ab. Der bauliche Zustand vieler davon ist deplorabel. Einen dieser Stadtteile haben die Jerewaner deshalb liebevoll „Bangladesh“ getauft. Wirtschaftlich hängt das Land am Tropf der Diaspora. Seien es reiche amerikanische Verwandte, die Geld schicken. Sei es der Familienvater, der in Russland als Gastarbeiter tätig ist und nur wenige Male pro Jahr nach Hause kommt. Selbst die Infrastruktur lebt von ausländischen Devisen. Reiche Exilarmenier finanzieren lebensnotwendige Straßenverbindungen oder investieren in kulturelle Institutionen. Davon gibt es viele im kleinen Armenien und mehr als in den meisten Ländern steht die Literatur und Sprache im Mittelpunkt. Die Armenier sind ein durch und durch literarisches Volk. Und damit meine ich nicht die Intellektuellen, sondern die enge Beziehung des „normalen“ Armeniers zu seiner Sprache, seiner Schrift und seiner Dichtung. Mesrop Mashtots schuf zu Beginn des fünften Jahrhunderts das armenische Alphabet und ist im ganzen Land gegenwärtig. Am prominentesten wohl in der Statue vor dem Matenadaran in Jerewan. Dort werden 14.000 der 30.000 überlieferten armenischen Manuskripte aufbewahrt. Exemplarische Beispiele aller Kategorien sind in Schauräumen für Besucher zu besichtigen. In erster Linie ist der Matendaran jedoch ein Forschungsinstitut, das von Armenienkenner aus der ganzen Welt besucht wird.
Sprache und Schrift ist eines der wichtigsten Distinktionsmerkmale für die Armenier. Ein weiteres ist die armenische Religion, geführt von einer institutionell eigenständigen Kirche. Pikanterweise legitim älter als die sich für allein seligmachend stilisierende katholische Kirche, was dem Vernehmen nach bis heute zu einem historischen Unwohlsein im Vatikan führen soll, wenn die Sprache auf die Armenier kommt. Die armenische Religion vereint Archaisches mit Pragmatischem. So werden bei diversen Gelegenheiten Tiere geopfert, wie im Alten Testament beschrieben. Vor Kirchen und Klöstern sieht man die Opferaltäre. Ganz modern ist der Klerus dagegen in Sachen Seelsorge. Gemeindepriester müssen (!) eine Familie mitbringen. Das dürfte die Zahl der begrapschten Ministranten im Vergleich zu katholischen Gemeinden ebenso signifikant reduzieren wie das Alltagswissen der Seelsorger erhöhen. Das Zölibat ist nur für die höheren Stufen der klerikalen Karriereleiter vorgesehen. Von einem Priesterseminar-Jahrgang entscheidet sich etwa ein Drittel für Ehelosigkeit. Die Restlichen suchen sich Frau & Kind für eine Gemeindestelle.
Archaisch wiederum das alttestamentarisch anmutende Patriarchat. Pater Minas, der Leiter des Priesterseminars am Sewansee, der mehr an seinem Handy als an seinem Glauben zu hängen scheint, setzt ein breites Grinsen auf als wir ihn zum Frauenthema befragen. Er verweist auf das berühmte (und vermutlich apokryphe) Pauluszitat, dass das Weib in der Kirche zu schweigen habe. Ein konservativer Katholik ginge im Vergleich als radikaler Feminist durch. Dazu passt, dass es Frauen in den Kirchen strikt verboten ist, den Altarbereich zu betreten. Sollte es trotzdem zu einem derartigen Sakrileg kommen, gibt es dafür allerdings eine pragmatische Lösung: Man weiht die Kirche neu.
Der Genozid an den Armeniern durch die Türken am Ende des ersten Weltkriegs ist auf mehreren Ebenen präsent. Realpolitisch durch die geschlossenen Grenzen zur Türkei, die das alte armenische Kulturgebiet künstlich trennt, sowie durch die Geopolitik der Region, etwa die Achse Türkei – Aserbaidschan. Ironischerweise gibt es dafür ein herzliches Verhältnis mit dem Iran, was auf einen jahrhundertelangen Multikulturalismus zurückgeht. Symbolisch durch das große Genozidmahnmal in Jerewan, das in mancher Hinsicht an Yad Vashem erinnert. Hinter vorgehaltener Hand erzählen Armenier von der Konkurrenzpolitik Israels, das angeblich seine diplomatischen Beziehungen dafür einsetze, befreundete Staaten von der offiziellen Qualifizierung des Massenmords an den Armeniern als Genozid abzuhalten. Im offiziellen Selbstverständnis des Staates nimmt der Genozid in Armenien jedenfalls denselben hohen politisch-historischen Stellenwert ein wie der Holocaust in Israel.
Wie sich der Gott Israels entschieden hat, seinem auserwählten Volk den einzigen Landstreifen des Nahen Ostens anzuweisen, der kein Erdöl hat, so benachteiligt auch der armenische Gott sein Volk geographisch: Das benachtbarte Georgien ist eine Kornkammer, Aserbaidschan weiß nicht wohin mit dem ganzen Gas und Erdöl. Armenien liegt auf einer durchschnittlichen Höhe von 1800 Metern, weshalb Landwirtschaft nur bedingt möglich ist. Rohstoffe muss man ebenfalls mit der Lupe suchen. Ossip Mandelstam beschrieb Armenien treffend als „Land der Steine“ und tatsächlich sah ich auf keiner meiner bisherigen Reise so viele Steine wie im Südkaukasus. Der ästhetische Gewinn ist direkt proportional zur wirtschaftlichen Nutzlosigkeit der Landschaft. Die Hirten mit ihren Herden in den Hochtälern sind ebenso pittoresk wie die karge Landschaft grandios.
Eingebettet in sie sind die berühmten armenischen Kirchen. Wer je vor bombastischen Barockkirchen, gigantischen Tempelanlagen und riesigen Mausoleen stand, den wird das Understatement der armenischen Architektur überwältigen. Die Kirchen und Klöster sind das Gegenteil von religiösem Bauprotz: klein und elegant fügen sie sich in die Landschaft ein. Sie stehen einsam in Hochtälern, in geologisch spektakulären Schluchten, an Berghänge angeschmiegt, in tiefen Märchenwäldern oder über dem riesigen Sewansee. Ich bin versucht, dafür den Begriff der „Land Art“ zu missbrauchen.
„Legitim älter“, weil sie früher Staatskirche wurde? Das ist doch im Sinne des Erfinders nebensächlich. Römisch-katholischer Lesart nach war erster Papst der vom Chef persönlich mit dem Schafehüten beauftragte Petrus, dessen Gebeine im dortigen Dom ruhen. Dagegen können auch die Armenier nicht ankommen, sondern mit ihren weniger illustren Aposteln höchstens gleichziehen. Zudem haben die Leute offenbar sowieso die Sache nicht ganz geschnallt, wenn sie in ihren Kirchen Tiere opfern, und sollten den Hebräerbrief etwas gründlicher studieren – die Katholiken allerdings ebenso, da sie meinen, das einmalige großartige Opfer jeden Tag wiederholen zu sollen, wenn auch in entschärfter Form.
Gegenüber neueren Entdeckungen apokrypher Bibelverse ist Vorsicht geboten. Bei genauem Hinsehen verdanken die sich mitunter nicht allzu nachvollziehbaren Schätzungen Pi mal Daumen oder eher noch vom aktuellen Zeitgeist bestimmtem Bauchgefühl.
Sehr geehrter Herr Dr. Köllerer
Ich habe mit großem Vergnügen Ihren Armenien-Bericht gelesen. Alles für mich interessant.
Vor einigen Tagen las ich aber in der TAZ einen Text über Abtreibung weiblicher Föten in Armenien http://www.taz.de/!5433411/ . Da kam mir der Gedanke: Sie haben in Armenien zwar mit einem hohen Kirchenmann gesprochen und Sie haben seine Ansichten als übel patriarchal gewertet, aber nun hätt mich auch noch interessiert: Gibt’s in Armenien denn nicht auch vielleicht Feministinnen? Und gibt es inzwischen auch Stellungnahmen der doch im Land noch vermutlich recht wichtigen autokephalen armenischen Kirche über diese misogynen Abtreibungen? – Jedenfalls verlor für MICH nach der Lektüre des TAZ-Berichts IHR Text über Armenien an jenem Glanz, den Sie über dieses Land streuten…..
Veit Feger, 89584 Ehingen (Deutschland), veit-feger.homepage.t-online.de,