Die Kultur- und Geistesgeschichtsschreibung greift gerne auf Vereinfachungen zurück. So liest man in vielen Büchern von der Rückkehr des Individuums in der Renaissance. Wer daran zweifelt, dass es auch im Mittelalter ausgeprägte Individualisten gegeben hat, kennt Peter Abaelard (1079-1142) noch nicht. Selbstverständlich war er im mittelalterlich-theologischen Weltbild verhaftet, aber er hatte keine Angst, diesen Rahmen zu sprengen. Das trug ihm eine Verurteilung durch das Konzil in Sens 1140 ein, welches seine Widersacher anstrengten. Abaelards polemischer Skeptizismus war für diese Zeit sehr ungewöhnlich. Sein wichtigster philosophischer Beitrag war jedoch die Widerlegung des naiven ontologischen Realismus, der in der Frühscholastik des 11. Jahrhunderts tonangebend war. Abaelard wies so erbarmungslos auf dessen absurde logische Konsequenzen hin, dass er diese Position bis zum Ende des Mittelalters diskreditierte. Ob er allerdings der radikale Nominalist war, zu dem ihn viele Philosophiehistoriker stilisieren, ist bis heute offen. Es ist nämlich ein Fehlschluss, von seiner Ablehnung des Ultrarealismus auf seine Position eines radikalen Nominalismus zu schließen, da er selbst wenig darüber schrieb.
Diesen bedeutenden Beitrag zum Universalienproblem würdigen die wenigen Philosophiehistoriker, die sich für diese Dinge interessieren. Weltberühmt wurde Abaelard in der Bücherwelt dagegen durch seine bis heute bekannte Liebesgeschichte mit seiner Schülerin Heloise, wo sich sein Nachhilfeunterricht schnell auf Sex spezialisierte. Die Folgen sind bekannt: Der Onkel der Heloise organisierte eine erfolgreiche Strafkastration und die beiden kamen bis zum Ende ihres Lebens nicht mehr voneinander los.
Wir wissen das und vieles mehr aus Abaelards Historia Calamitatum, welche auch die Neuübersetzung der Liebesbriefe durch Hans-Wolfgang Krautz einleitet. In dieser Autobiographie in Briefform, die in der Tradition Senecas als Trostbrief an einen Freund konzipiert ist, bekommen wir einen ungeschönten Bericht über Abaelards Leben. Von den Universitätsintrigen bis zum Liebesspiel mit Heloise. Diesem ersten Brief folgen noch vier weitere, je zwei von Heloise an Abaelard und dessen Antworten. Man wird Zeuge einer erstaunlichen sexuellen Leidenschaft, die groteskerweise mit ausführlichen theologischen Überlegungen eingenebelt wird. Die drei restlichen Briefe, Nummer fünf bis acht, sind in der neuen Manesse-Ausgabe nicht abgedruckt, weil sie sich fast nur mit Theologie beschäftigen.
Abaelard und Heloise: Liebesbriefe. (Manesse)
Die beiden hatten ja nicht nur Sex miteinander, sondern auch ein Kind.
Die Manesse-Edition kenne ich nicht; ich würde eigentlich gern die vollständigere bei Lambert Schneider empfehlen, aber die gibt es mittlerweile nicht mehr, bzw. nur noch als BoD.
Die Manesse-Ausgabe ist neu. Die andere Ausgabe habe ich auch.