Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge

Das ästhetisch Revolutionäre an Rilkes Roman wird deutlich, wenn man ihn mit seinen großen Zeitgenossen vergleicht. Zwei Jahre nachdem Fontane 1899 seinen fantastischen Der Stechlin abschloss, beginnt 1901 der junge Rilke an den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge zu schreiben. Im gleichen Jahr erscheint ein weiterer Höhepunkt des realistischen Romans: Die Buddenbrooks. Während Theodor Fontane und Thomas Mann ästhetisch das 19. Jahrhundert zu einem Abschluss bringen, wirft der Rilke in seinem Buch alle diese Konventionen um: Weder gibt es eine klare Chronologie noch einen herkömmlichen Erzähler. Das kann selbst heute noch Leser irritieren, welche sich durch die klassische Moderne lasen.

Die Aufzeichnungen schreibt ein achtundzwanzig Jahre alter Däne, ein verarmter Adeliger, der in Paris gelandet ist. Der Text besteht aus einer Kombination von „klassischen“ Handlungselementen, langen Reflexionen und Assoziationen. Die Paris-Passagen finde ich am besten gelungen, während mich die beiden anderen Hauptorte der Handlung, das Schloß der Brigges und das Urnekloster, in denen Malte seine Kindheit verbringt, weniger interessieren. Das mag auch am Thema des Okkulten liegen, das eine wichtige Rolle spielt. Das letzte Drittel des Romans bekommt von Rilke dann noch eine historische Dimension verpasst, indem sich Malte etwa mit Karl dem Kühnen auseinandersetzt.

Die formale und kulturgeschichtliche Bedeutung des Romans drängt sich bei der Lektüre förmlich auf. Rilke formuliert als einer der ersten das moderne, verunsicherte Bewusstsein mit neuen literarischen Mitteln:

Ist es möglich, denkt es, daß man noch nichts Wirkliches und Wichtiges gesehen, erkannt und gesagt hat? Ist es möglich, dass man Jahrtausende Zeit gehabt hat, zu schauen, nachzudenken und aufzuzeichnen, und daß man die Jahrtausende hat vergehen lassen wie eine Schulpause, in der man sein Butterbrot ißt und einen Apfel?

Ja, es ist möglich.

Ist es möglich, daß man trotz Erfindungen und Fortschritten, trotz Kultur, Religion und Weltweisheiten an der Oberfläche des Lebens geblieben ist? Ist es möglich, daß man sogar diese Oberfläche, die doch immerhin etwas gewesen wäre, mit einem unglaublich langweiligen Stoff überzogen hat, so daß sie aussieht, wie die Salonmöbel in den Sommerferien?

Ja, es ist möglich.
[S. 23]

Hugo von Hofmannsthal fühlte sich ähnlich verunsichert und versuchte diese Erkenntniserschütterung in Literatur zu gießen. Mir persönlich fehlt aber der strukturelle Zusammenhalt, welche die Meisterwerke der Moderne trotz ihres Avantgardismus auszeichnet, man denke nur an den grandiosen Ulysses. Aber das einem literarischen Pionier vorzuhalten, wäre unfair.

Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (Insel)

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