Eine der Hauptaufgaben von Philosophen ist es, anscheinende Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen, und dadurch grundsätzliche Reflexionen auszulösen. Unter den zeitgenössischen Denkern gibt es nur wenige, die das so gut beherrschen wie John Gray, Professor für European Thought an der London School for Economics. Eine seiner provokanten Kernthesen lautet, dass viele scheinbare säkulare Institutionen und Weltanschauungen in Wahrheit tief vom Christentum geprägt sind, und deshalb pseudoreligiöse Züge aufweisen. In meiner Notiz über Grays Buch Blackmass beschreibe ich diese Auffassung ausführlicher.
Heresies ist dagegen eine thematisch gruppierte Anthologie von Zeitschriftenartikeln, die zu Beginn des Jahrtausends erschienen sind. Zusätzlich zur erwähnten Extension des Religiösen spielt in vielen Essays auch Grays illusionsloses Menschenbild eine Schlüsselrolle. Ethisch habe die Menschheit seit Jahrtausend nichts hinzugelernt, weshalb man auch scheinbar großartige Fortschrittsideologien kritisch hinterfragen müsse. Marxismus und Neoliberalismus sind für Gray nur zwei Seiten derselben Medaille, nämlich ein von anthropologischen Fakten befreites Wunschdenken.
Die Schärfe von Grays Verstand zeigt sich in vielen seiner im engeren Sinn politischen Artikel. Er sagt das Desaster des Irakkriegs und die Destabilisierung des Nahen Ostens mit einer erschreckenden Präzision voraus.