Erschienen in „Literatur und Kritik“ Mai 2016
Die meisten Leser Thomas Bernhards kennen dessen Leben aus seinen autobiographischen Schriften, die in fünf Teilen zwischen 1975 und 1982 veröffentlicht wurden. Nicht in chronologischer Reihenfolge: Die frühesten Erinnerungen erscheinen unter dem Titel „Ein Kind“ erst als letztes Buch der Reihe. Bereits während meines Germanistikstudiums in Salzburg versuchte Hans Höller in den neunziger Jahren, Fakten und Fiktion in der Autobiographie des Autors zu unterscheiden und publizierte 1993 schon früh eine Rowohlt Monographie über ihn. Eine weit umfangreichere Arbeit legt nun der Salzburger Germanist Manfred Mittermayer vor, der sich auch durch die Herausgabe einiger Bände in der kürzlich abgeschlossenen Werkausgabe des Suhrkamp-Verlags Verdienste um den Autor erwarb und ein wichtiger Protagonist der Bernhard-Forschung ist. Leicht wurde ihm sein Projekt nicht gemacht: Der Nachlass-Verwalter Peter Fabjan und Stiefbruder Bernhards verbot ihm bedauerlicherweise aus unveröffentlichten Briefen zu zitieren, oder die mit Fabjan geführten Gespräche zu verwenden. Mittermayer war deshalb auf die öffentlich zugänglichen Quellen angewiesen. So greift er oft auf die Nachlass-Publikation „Meine Preise“ zurück.
Wer die Ästhetik Thomas Bernhards verstehen will, kann anhand der Autobiographie bereits ein Kernelement kennenlernen: Bernhard gibt der Fiktion immer Priorität über die Fakten, wenn es seine Literatur künstlerisch besser macht. Überhaupt inszeniert er sein Autorenleben gerne für das Publikum, ganz so als sei es eines seiner Theaterstücke. Mittermayer bringt dafür zahlreiche Beispiele aus allen Lebensphasen des Autors.
Ein wichtiges Ereignis im Leben des jungen Thomas Bernhard war etwa der Wechsel vom Salzburger Staatsgymnasium am Grünmarkt zu einer Kaufmannslehre in der berüchtigten Scherzhauserfeldsiedlung. Was wissen wir über die Fakten? Die schulischen Leistungen des Jungen waren nicht die besten, er musste die zweite Klasse nach einer verpatzten Latein-Nachprüfung wiederholen. Zusätzlich waren die ökonomischen Umstände seines Vormunds Emil Fabjan angespannt. Nachdem sich die Leistung nicht besserte, erfolgte die Abmeldung vom Gymnasium am 1. April 1947. Fiktional in „Der Keller“ verarbeitet macht der Autor daraus eine spontane, autonom getroffene existenzielle Entscheidung des Jungen: „Ich wollte in die entgegengesetzte Richtung, diesen Begriff in die entgegengesetzte Richtung hatte ich mir auf dem Weg in das Arbeitsamt immer wieder vorgesagt, immer wieder in die entgegengesetzte Richtung…“. Aus dieser – in seiner üblichen Manier übertriebenen – literarischen Entgegensetzung zwischen der bürgerlichen Welt des Gymnasiums und der Welt der Außenseiter in der Scherzhauserfeldsiedlung wird ein wichtiges strukturelles Grundprinzip des Buches. Eine schlichte Wiedergabe der Fakten hätte diesen ästhetischen Effekt nie erzeugen können.
Bernhard hat dieses Grundprinzip seines Schaffens nicht verschwiegen. Mittermayer unterbricht die Lebensbeschreibung immer wieder, um Bernhards Literaturauffassung zu schildern. Die zentralen Zeugnisse davon werden ausführlich zitiert. So zum wichtigen Begriff der Künstlichkeit im von Ferry Radax 1970 gedrehten Film „Drei Tage“: „In meinen Büchern ist alles künstlich, das heißt, alle Figuren, Ereignisse, Vorkommnisse spielen sich auf einer Bühne ab, und der Bühnenraum ist total finster.“
Ein Beispiel für Bernhards Selbststilisierung aus einer viel späteren Zeit ist seine Film-Aussage 1984 zu Krista Fleischmann: „Ich hab‘ immer aus eigenem Antrieb gelebt, hab‘ nie eine Subvention g’habt, es hat sich um mich nie jemand gekümmert, bis heute nicht.“ Mittermayer widerlegt diese Aussage mühelos anhand belegbarer staatlicher Förderungen.
Eine Stärke der Biographie Mittermayers ist es, diese Bezüge zwischen Biographie, Ästhetik und Rezeption regelmäßig herauszuarbeiten. Er stützt damit seine zu Beginn des Buches formulierte Auffassung: „Bernhards Literatur ist ohne Bezugnahme auf die Biografie nicht zu verstehen – Bernhards Literatur jedoch ist aus seiner Biographie nicht zu erklären“.
Speziell die Wirkungsgeschichte ist Mittermayer immer wieder ein Anliegen. Den Werkbeschreibungen, egal ob es sich um einen Prosatext oder um eine Theateraufführung handelt, folgt eine kurze Rezeptionsgeschichte. Dafür greift der Biograph nicht nur auf die Rezensionen der führenden Blätter zurück, sondern verweist immer wieder auch auf die literarische Wirkung Bernhards. Am Ende der Lektüre ist man also auch darüber im Bilde, welche Autoren im In- und Ausland Bernhard maßgeblich in ihrem Schaffen beeinflusst hat. Zu nennen wären hier etwa William Gaddis oder Don DeLillo.
Ein weiterer Vorzug sind die unprätentiösen Beschreibungen der Werke Bernhards. Es gibt ja nicht wenige Lebensbeschreibungen, die sich stilistisch lesen als hätte sie der Beschriebene selbst verfasst. Mittermayers sachlicher Stil setzt dagegen einen wohltuenden Kontrapunkt zum Hyperbolismus Bernhards. Das gilt auch für die Interpretationen des Germanisten: Sie bewegen sich immer nahe am Text und sind nie literaturtheoretisch überladen. Damit zeigen sie auch dem literaturwissenschaftlich nicht vorbelasteten Leser, wie man sich der Komplexität der Texte so nähern kann, dass man Erkenntnisgewinne erzielt. Erfreulich auch, dass Mittermayer auf noch nicht publizierte Texte aus dem Nachlass eingeht. Ab 1957 arbeitet Bernhard etwa an dem Prosatext „Schwarzach Sankt Veit“ zu dem sich ein 296 Seiten langes Typoskript findet. Die Geschichte zweier Brüder enthält zahlreiche Bezüge auf Bernhards Jugend. David ist Gerichtsreporter in Salzburg, war vorher Kaufmannslehrling und will Sänger werden, ganz so wie der junge Thomas Bernhard. Man kann nur hoffen, dass aus dem unveröffentlichtem Nachlass bald ein veröffentlichter wird.
Komplexität und Stilisierung sind ebenfalls wichtige Stichworte für Bernhards Sozialleben. Das vom Autor gerne gezeichnete Selbstbild des einsamen Einzelgängers, der sich in seinem Ohlsdorfer Vierkanthof von der gehassten Außenwelt abschottet, hat zwar einen wahren Kern. Richtig ist aber ebenso, dass Bernhard während seines Lebens immer intensiv für ihn wichtige soziale Beziehungen pflegt. Das beginnt mit dem idolisierten Großvater Johannes Freumbichler, der als gescheiterter Heimatschriftsteller seine Familie als Patriarch tyrannisiert. Bernhards Start ins Leben war in vielen Dimensionen schwierig: Er war arm, krank und hatte in der Familie kaum Unterstützer. Bereits als jungem Menschen gelang es ihm aber, sich ein nützliches Netzwerk im Kulturbetrieb aufzubauen. Carl Zuckmayer fördert ihn schon früh. Etwas später kommt dann noch das Ehepaar Lampersberg hinzu, das Bernhard in die österreichische Avantgardeszene einführt, und die er dann viel später mit seinem Roman „Holzfällen“ zu einer Klage provoziert. Der wichtigste Lebensmensch für ihn war Hedwig Stavianicek, 36 Jahre älter als er und zu Beginn auch ein Ersatz für die früh gestorbene Mutter. Sie lernten sich Anfang der fünfziger Jahre kennen als sich Bernhard wegen seiner Tuberkolose in der Lungenheilstätte St. Veit aufhält. Mittermayer beschreibt in seiner Biographie ausführlich weitere Bekanntschaften Bernhards und deutet an einer Stelle auch an, dass sich Bernhards sexuelle Vorlieben nicht nur auf Frauen beschränken, ohne das allerdings näher auszuführen.
Die große Leistung von Mittermayers Buch ist es, dass sie uns einen soliden Vergleich zwischen dem Menschen Thomas Bernhard und dem Schriftsteller Thomas Bernhard ermöglicht. Wer bisher nur Bernhards Werk und das darin entworfene Selbstbild kennt, wird über viele Tatsachen seines Lebens erstaunt sein, speziell was seine Kindheit und seine ersten Schritte als Journalist und Autor in Salzburg angeht.
Manfred Mittermayer: Thomas Bernhard. Eine Biographie (Residenz)