Große Teile der Sozialwissenschaften basieren auf Umfragen. Wann immer man etwas über Einstellungen oder Verhalten wissen will, wird ein im Idealfall statistisch repräsentatives Sample befragt. Die zahlreichen methodischen Probleme dabei sind inzwischen gut bekannt, und es gibt auch eine Reihe von statistischen Techniken sie wieder auszugleichen. Psychologen dagegen arbeiten gerne mit ihren Studenten als Versuchskaninchen, also überwiegend mit weißen Menschen aus der Mittelschicht.
Erstmals in der Wissenschaftsgeschichte stehen nun ganz andere Möglichkeiten zur Verfügung: Die Milliarden Suchanfragen im Internet. Es stellt sich nämlich heraus, dass viele Menschen Google Dinge anvertrauen, die sie sonst selbst vor engen Verwandten und Freunden geheim halten.
The microscope showed us there is more to a drop of water than wie can see. The telescope showed us there is more to the night sky than we think we see. And new, digital data now shows us there is more to human society than we think we see.
[S. 16]
Seth Stephens-Davidowitz war Datenanalyst bei Google und zeigt in diesem spannenden Buch an zahlreichen Beispielen, welche neuen Erkenntnisse man durch die Analyse von Suchanfragen gewinnen kann. Es sei gleich gesagt: Misanthropen werden sich schnell bestätigt fühlen. Was Seth-Davidowitz zu heiklen Themen wie Rassismus und Sexismus herausfindet, lässt einen schnell die Haare zu Bergen stehen. Das Standardnarrativ in den USA lautet, dass der radikale Rassismus seit den fünfziger Jahren stark abgenommen hätte, und es primär nur noch impliziten Rassismus gäbe. Wie falsch das ist, zeigt Stephens-Davidowitz durch eine Auswertung, wo und wie oft nach „nigger jokes“ gesucht wird. Millionen (!) weiße Amerikaner suchen danach. Ein weiteres Beispiel: Eltern fragen Google viel öfters danach, ob ihr Sohn hoch begabt ist, als ihre Tochter. Das gilt auch für andere Themen, die mit Intelligenz verbunden sind. Umgekehrt suchen Eltern bei ihren Töchtern viel öfters als bei ihren Söhnen nach Dingen, die mit dem Aussehen in Verbindung stehen.
Der Autor beschränkt sich nicht auf Google als Quelle, sondern nutzt auch die Suchen auf Pornoseiten. Ein verstörendes Ergebnis hier ist, wie viele Frauen nach Gewaltpornographie suchen, in denen Frauen gedemütigt werden.
So wie es also aussieht, haben wir damit nun geschichtlich erstmals die Möglichkeit, unseren Mitmenschen so direkt ins Hirn zu sehen wie bisher noch nie. Wie hässlich das Ergebnis sein wird, zeigen diese wenigen Beispiele. Einen wichtigen Aspekt thematisiert Stephens-Davidowitz allerdings zu wenig, nämlich den demokratiepolitischen. Denn die beschriebene anthropologische Erkenntnismaschine ist nicht in der Hand von Universitäten, sondern von wenigen Internetkonzernen. Sie können damit die menschliche Natur durchleuchten und in Folge manipulieren, wie niemand zuvor in der Weltgeschichte. Strengere Regeln wären auch deshalb politisch dringend angebracht.
Seth Stephens-Davidowitz: Everybody Lies. What the Internet Can Tell Us About Who We Really Are (Bloomsbury)