Japan – Eine Reise ins Unverständliche

Erschienen als Kulturbrief in „Literatur und Kritik“ im März 2019

Oktober 2017

Wie alle Europäer fliege ich mit vielen Klischees im Gepäck nach Tokio. Bunt, grell, teuer, arbeitsam soll es sein im fernen Osten. Knapp drei Wochen reise ich kreuz und quer durch das Land, bevor ich von Hiroshima aus die Heimreise nach Wien antrete. Am Ende habe ich allerdings den Verdacht, dass einige dieser mentalen Schubladen im Kern durchaus ihre Berechtigung haben könnten.

Auf den ersten Blick sieht Japan wie ein westliches Land aus. Zwar gibt es in Europa keine Megacities, aber wer eine urbane Wanderung in Manhattan überlebte, findet sich auch in Tokio zurecht. Der Alltag der meisten Menschen erinnert ebenfalls an unsere Gewohnheiten: Millionen machen sich täglich auf den Weg in ihre Büros und Behörden. Je genauer man sich jedoch diesen Alltag ansieht, desto fremder wird einem der riesige Inselstaat.

Bekannt ist, dass Japan zu den Ländern mit der geringsten Kriminalität weltweit zählt. Tatsächlich gibt es selbst in Tokio keine nennenswerte Alltagskriminalität. Taschendiebstähle sind ebenso eine Seltenheit wie Wohnungseinbrüche. Es fällt mir auch schnell die Sorglosigkeit auf, mit der die Japaner ihr Eigentum behandeln: Offene Taschen, heraushängende Geldbörsen… Es ist überhaupt kein Problem sein Gepäck für längere Zeit unbeaufsichtigt auf dem Bahnhof in Kyoto stehen zu lassen, während man etwas erledigt. Mir wird auch mehrfach versichert, dass eine Dreizehnjährige völlig ungefährdet um Mitternacht die Metro in Tokio benützen könne. Getrübt wird diese heile Welt allerdings durch überdurchschnittlich viele sexuelle Belästigungen. Überhaupt ist das Frauenbild noch ein sehr traditionelles. Speziell bei der älteren Generation scheinen oft die Männer den Ton anzugeben. Wie bei uns findet man viele Frauen im Dienstleistungssektor und im Handel beschäftigt.
Organisierte Kriminalität gibt es in Japan selbstverständlich in den gängigen Gebieten (mit einem Schwerpunkt auf dem Glücksspiel), was aber offensichtlich nicht mit der Alltagskriminalität korreliert.

Vier Dutzend Länder bereiste ich bisher und in keinem fühlte ich mich so sicher wie in Japan. Mir drängt sich schnell die Frage auf: Was ist die Ursache für dieses dauerhafte Verbrechenstief? Soziologen führen es gerne auf kulturelle Faktoren zurück. Ein japanischer Intellektueller versucht es mir gegenüber mit einer historischen Erklärung: Familien wurden administrativ lange in kleinen Einheiten zusammengefasst. Wenn eine Person dort ein Verbrechen beging, wurde die gesamte Einheit kollektiv bestraft. Der Effekt sei eine hohe soziale Kontrolle und gegenseitige Überwachung gewesen. Das hätte sich tief in die Psyche der Japaner eingebrannt.
Dazu passt ebenfalls die erschreckende Alltagsdisziplin der Inselbewohner. Es gibt keine Graffiti. Es gibt keinen weggeworfenen Getränkedosen. Es gibt keinen Vandalismus. Japan ist übersät von Automaten aller Art. Kein einziger war beschädigt oder beschmiert. Weder in Tokio noch in Kyoto sah ich auch nur einen Einheimischen bei Rot die Straße queren. Als ich das Thema einmal zur Sprache bringe, meint einer stolz, es gäbe schon Graffiti, aber man müsse schon wissen, wo, um sie gezielt aufzusuchen. Bettler gibt es ebenso wenig. Obdachlose existieren, fallen im Straßenbild aber nicht auf.

Zugwagons halten an exakt spezifizierten Orten am Bahnsteig. Man weiß genau, wo man einzusteigen hat, weil es auf dem Pflaster gekennzeichnet ist. Alle stellen sich diszipliniert wartend in Zweierreihen auf. Große Aufregung und viele Entschuldigungen, weil am Tag nach dem Typhoon, unser Zug in Kyoto sieben Minuten Verspätung hat. Auf manchen Parkplätzen vor Touristenattraktionen sind Gehwege aufgemalt. Wer quer über den Parkplatz geht, fängt schnell einen fragenden Blick ein.

Diese Konformität ist aus europäischer Sicht gleichzeitig faszinierend und erschreckend. Junge Menschen trifft man tagsüber fast nur in ihren sehr formellen Schuluniformen an. Die wenigen Individualisten unter ihnen tragen grelle Turnschuhe als Kontrast. In keinem Land der Welt sind mir bisher so ultrahöfliche Teenager begegnet.

Die dunklen Seiten dieses Konformitätsdrucks sind dem westlichen Medienkonsumenten bekannt: Etwa eine ungewöhnlich hohe Selbstmordrate, nebst diversen psychiatrischen Krankheitsbildern.

Schon bald bringe ich die Frage nicht mehr aus den Kopf: Würde ich in diesem Land leben wollen? Der perfekt funktionierende Alltag und das hohe Sicherheitsgefühl im urbanen Raum sind sehr attraktiv. Der Alltagskonformismus auf der anderen Seite ist ebenso abschreckend. Ab und an denke ich, in eine Black-Mirror-Episode geraten zu sein.

Ein weiterer augenfälliger Unterschied zu Europa ist die hohe Alltagsreligiosität. Die Schreine sind zu jeder Tageszeit voller Menschen aller Altersklassen. Wie bei allen Religionen gibt es jede Menge Möglichkeiten, Geld gegen göttliche Gnade einzutauschen. Sehr beliebt sind konkrete Wünsche, deren Erfüllung man sich kaufen kann. In vielen Heiligtümern liegt eine Art spirituelle Selbsthilfespeisekarte aus, auf der man sich seinen Wunsch präzise aussuchen kann. Diese reichen von den üblichen menschlichen Bedürfnissen wie Nachwuchs oder Gesundheit aber auffällig in den kapitalistischen Bereich hinein, etwa nach Sicherheit am Arbeitsplatz oder dem ökonomischen Wohlergehen des eigenen Arbeitgebers.
Umgekehrt hat der Arbeitgeber auch religiöse Pflichten gegenüber seinen Angestellten. Geht ein Mitarbeiter etwa als Expat für längere Zeit ins Ausland, übernimmt die Firma oft alle Ausgaben für die spirituelle Versorgung der Ahnen und die Grabpflege. Sehr seltsam für uns Europäer mutet ein anderer Aspekt in diesem Zusammenhang an: Die Firmengräber. Ich besuche den heiligsten Berg Japans, den Koya-san. In einem Klosterzimmer dort verbringe ich die wohl unbequemste Nacht meines Lebens auf einem Futon am Boden. Teil der kleinen Klosterstadt ist der größte Friedhof des Landes. Mindestens 200.000 Gräber wurden angelegt, weil jeder Japaner, der etwas auf sein Seelenleben hält, dort beerdigt werden will. Darunter sind riesige Grabanlagen der größten Konzerne des Landes. Wer im Dienst ums Leben kommt oder sich sonstige Verdienste erwirbt, landet statt im Büro seines Arbeitgebers schließlich im Firmengrab. Nicht wenige davon sind für westliche Augen skurril dekoriert. So ziert das Grab der größten Kaffeerösterei Japans eine riesige Kaffeetasse. Bei Nissan findet man monströse Arbeiterskulpturen, an denen Stalin seine Freude gehabt hätte.

Als ich in der Provinzstadt Okayama auf dem Weg nach Hiroshima übernachte, lande ich am Abend in einem auf die Gesamtverwertung von Schweinen spezialisierten Lokal (vom Ohr über alle Innereien zum Anus). Bald setzt sich ein junger Bursche neben mich, der eben spät aus seinem Büro kommt. Als die gewünschten anatomischen Schweineteile vor ihm liegen, hält er kurz inne und absolviert ein kurzes religiöses Ritual.

Die Existenz von Firmengräbern zeigt, wie zentral der Arbeitgeber im Leben vieler Japaner ist. Die Erwartungshaltung an die japanische Jugend war über Jahrzehnte hinweg, es an eine der angesehensten Universitäten des Landes zu schaffen, um danach dann entweder beim Staat oder in einem Konzern unterzukommen. Danach dann gemächlich die Hierarchieleiter empor zu klimmen, bis man schließlich im Firmengrab zu seinen Ahnen stößt. Dieser Gesellschaftsvertrag beginnt nun allerdings zu zerbröckeln. So abgeschottet Japan gesellschaftlich vom Rest der Welt sein mag, den globalen ökonomischen Trends kann sich die Wirtschaft dauerhaft nicht entziehen. Das zeigen einerseits diverse Wirtschaftsskandale, wenn etwa Qualitätszertifikate für Stahl gefälscht werden, weil man sich eine Produktion auf diesem hohen Niveau nicht mehr leisten kann. Andererseits gibt es inzwischen wie im Westen viele junge Menschen, welche als Einmannunternehmen pseudoselbständig im Prekariat leben. Das Stigma dafür ist freilich groß, weil die alten gesellschaftlichen Karriereerwartungen immer noch bestehen. Man gilt als Versager und kann deshalb oft keine Familie gründen. Sehr schön beschreibt der Japanologe Christian Tagsold diese Prozesse in seinem „Länderporträt“.

Nach den Metropolen Tokio und Kyoto, nach kleinen Alpenstädten und Dörfern, nach beeindruckenden Burgen und mehr als zwanzig besichtigten Schreinen stehe ich schließlich im Friedenspark Hiroshimas. Angesichts der Spannungen zwischen Nordkorea und den USA wirkt die Mahnung des Orts viel eindringlicher als noch vor einem Jahr. Die Friedenserziehung in Hiroshima läuft ebenso effizient ab wie der Zugverkehr. Es sind unzählige Schulklassen unterwegs, die vor den unterschiedlichen Gedenkstätten ihre sehr emotionalen Rituale aufführen. Man trifft kleine Kindergruppen, die gezielt Ausländer in ihrem Schülerenglisch ansprechen und ihnen ein paar Fragen stellen. Mit dem expliziten hehren Ziel, sich für den Weltfrieden einzusetzen. Der Wille der Menschen in Hiroshima sich gegen Kriege und Atomwaffen zu engagieren, wirkt authentisch und aufrichtig. Wie skeptisch ich bin, dass diesen Kindern ein kriegsfreies Leben vergönnt sein wird, verschweige ich vorsichtshalber.

3 Gedanken zu „Japan – Eine Reise ins Unverständliche

  1. Ihre Reiseberichte sind immer hervorragende und interessante Zusammenfassungen. Gerade dieser macht mir Lust darauf, auch endlich mal Japan zu bereisen und kennenzulernen.

    Ich habe schon einige Weltreisende getroffen, die sagten, dass Japan mit das sympathischste Land war. Ich habe es mir immer ziemlich hektisch, betriebsam und dadurch unpersönlich vorgestellt (wie ein asiatisches Deutschland), aber wenn man Bekannte oder eine Familie findet, die einen zeitweise aufnimmt (z.B. über Couchsurfing), dann lernt man anscheinend sehr schnell die ruhige und persönliche Seite Japans kennen.

    Das mit der Höflichkeit fällt mir auch bei Japanern im Ausland auf. Ich wohne zur Zeit in Kotor in Montenegro, wo Touristen aus aller Welt vorbeikommen. Wenn ich Wandern bin und mir jemand entgegen kommt, grüße ich. Die meisten Europäer und Amerikaner sind so schofelig, dass sie das vollkommen ignorieren. Die meisten Japaner hingegen sind höflich, freundlich und scheinen aufrichtig erfreut.

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