Murasaki Shikibu: The Tale of Genji

Im Westen weitgehend unbekannt ist The Tale of Genji der prototypische japanische Klassiker. Was Dante für die Italiener, und Goethe für die Deutschen ist, ist Murasaki Shikibu für die Japaner. Bemerkenswert ist dabei nicht nur, dass der Text aus dem frühen 11. Jahrhundert stammt oder dass er von einer Frau geschrieben wurde, sondern er ist auch der Form nach unglaublich modern ist. Prinzipiell liest sich das Buch wie ein neuzeitlicher Roman, weil es sich um ungebundene Prosa handelt, freilich in einer archaischen Sprache geschrieben. So mancher Literaturhistoriker hält ihn für den ersten Roman der Literaturgeschichte.

Die Herausforderung des heutigen Lesers liegt anders als bei Dante nicht an der Überwindung einer sprachlichen Hürde, sondern am kultur- und sozialhistorischen Kontext. Der lange Text – in meiner bibliophilen englischen Ausgabe weit über 1000 Seiten – wurde in der Heian-Zeit geschrieben, der klassischen Periode Japans. Kennzeichen dieser Zeit war eine hoch idiosynkratische Hofkultur mit unzähligen Rängen und Ritualen, kombiniert mit zahlreichen kulturellen Interessen. Wie das einfache Volk lebte, interessierte diese Adelsschicht kaum. Murasaki Shikibu spiegelt diese verfeinerte Lebenskultur nicht nur, sie setzt dieses Wissen auch voraus, um die Feinheiten ihres Romans zu verstehen. Wer diese Ränge und Rituale nicht kennt, wird zahlreiche subtile Anspielungen und Abweichungen nicht verstehen, und damit eine wesentliche ästhetische Dimension des Werks. Mit einem vertretbaren Zeitaufwand lässt sich dieses Defizit auch nicht beseitigen.

Bleiben also die weniger subtilen Ebenen des Romans. Im Mittelpunkt steht das Leben, genauer das Liebesleben des Prinzen Genji, dessen Schönheit und Anziehungskraft für das weibliche Geschlecht märchenhaft übertrieben wird. Genji ist der Sohn des Kaisers mit einer seiner Konkubinen und wird deshalb aus politischen Gründen von der offiziellen Thronfolge ausgeschlossen. Eine der sozialhierarchischen Reibeflächen des Texts. Die Kapitel werden zwar chronologisch erzählt, und Genji wird dabei immer älter, sind aber trotzdem gut als voneinander weitgehend unabhängige narrative Einheiten zu verstehen. Es ist ohne größere Einschränkungen möglich, sie nicht in chronologischer Reihenfolge zu lesen. Nachdem für den heutigen Leser die Abfolge diverser amuröser Abenteuer auch ermüdet, möchte ich diese Leseweise auch explizit empfehlen.

Trotz der oben beschriebenen Einschränkung ist einer der Hauptreize der Lektüre natürlich, in diese fremdartige Welt der Heian-Kultur einzutauchen. Auch eine anthropologische Perspektive ist lohnend, sowie der Vergleich mit Klassikern des europäischen Mittelalters. Schließlich schadet es auch nicht, sich einmal mit dem vermutlich ersten Roman der Weltliteratur etwas ausführlicher auseinanderzusetzen.

Murasaki Shikibu: The Tale of Genji (Folio Society)

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