Eines der intellektuell anregendsten Bücher, die ich seit längerer Zeit las. Jonathan Haidt schlägt ein psychologisches Moral-Modell vor: Er will erklären, wie die Menschheit moralisch tickt und liefert damit auch einen wichtigen anthropologischen Diskussionsbeitrag. Dafür geht er stark von seiner persönlichen Forschungsgeschichte aus, weshalb sich Teile des Textes wie eine wissenschaftliche Autobiographie lesen.
Haidt ist ein Intuitionist, beruft sich soziologisch primär auf Durkheim und ethisch auf die Utilitaristen. Sein inzwischen passabel neurologisch belegter Ausgangspunkt ist, dass menschliches Verhalten wesentlich auf irrationalen Komponenten beruht. Für die Ratio verwendet er das einprägsame Bild eines Reiters auf einem riesigen Elefanten. Jeder intellektuell Tätige weiß ja tatsächlich, wie anstrengend es sein kann, aktiv gegen die diversen irrationalen kognitiven Mechanismen anzudenken.
Das zweite Leitmetapher ist, dass der Mensch zu 90% Schimpanse und zu 10% Biene sei. Er beschreibt plausibel den von ihm „Hive Switch“ genannten Mechanismus, der Menschen bei Gefahr oder auch bei Massenveranstaltungen wie im Sport ihre Individualität zugunsten ihrer Gruppenzugehörigkeit temporär ausschalten lässt.
Die sechsteilige Matrix, welches Haidt propagiert unterscheidet folgende moralische Kategorien:
Care / Harm
Liberty / Oppression
Fairness / Cheating
Loyalty / Betrayal
Authority / Subversion
Sanctity / Degradation
Der Psychologe beschreibt sehr detailliert, wie er zu dieser Auffassung kommt, also welche seiner Forschungen zur Ausgestaltung dieser Matrix führten. Auch wenn Haidt anderes suggeriert, sollte man sich als Leser aber immer darüber im Klaren bleiben, dass es sich dabei um ein vergleichsweise willkürliches Modell handelt. Methodologisch ist das durchaus erlaubt, weil in der Wissenschaft Modelle bekanntlich oft zu erstaunlichen Erkenntnisgewinnen führen.
Auf dieser Basis analysiert Haidt nun die unterschiedlichen Positionen der amerikanischen Politik. Sein Fazit ist, dass die Linken („Liberals“) sich primär auf das Problem der Fairness und auf Unterdrückte aller Couleur konzentrieren, während konservative Politiker besser darin seien, alle sechs Bereich der Matrix anzusprechen. Analytisch hilfreich ist auch der Begriff des moralischen Kapitels (analog zum sozialen Kapital), den er im Zuge seiner Darstellung einführt.
Letztendlich landet Haidt bei dieser Definition:
Moral systems are interlocking sets of values, virtues, norms, practices, identities, institutions, technologies and evolved psychological mechanisms that work together to suppress or regulate self-interest and make cooperative societies possible.
[314]
Haidt legt mit seinem Buch einen großen Wurf vor, nicht zuletzt, weil er keine Scheu hat, die großen Fragen der Menschheit anzugehen. Wer sich für die Natur des Menschen und die Politik der Gegenwart interessiert, dem sei die Lektüre dringend empfohlen. Das heißt nun aber nicht, dass es keine Probleme mit Haidts Argumentation gäbe. Auf zwei Klassen von Einwänden will ich abschließend noch hinweisen.
Im spannenden Kapitel über Religion beschreibt Haidt, wie diese aus evolutionären Gründen entstanden sein könnte, nämlich als eine Stärkung der Gruppenkohäsion und -kooperation, welche einen Überlebensvorteil bot. Damit diese Erklärung funktioniert, muss Haidt auf die bis heute unter Evolutionstheoretikern umstrittenen Mechanismen der Gruppenselektion zurückgreifen. Die klassische Evolutionstheorie geht von einer Selektion auf der Ebene des Individuums aus. Ob natürliche Selektion auf Ebene der Gruppe analog funktioniert, ist bei weitem weniger sicher. Freilich bringt der Autor dafür einige starke Argumente.
Wesentlich problematischer ist allerdings folgendes, vom mir verkürztes Argumentationsmuster: Da die Religion Teil der menschlichen und gesellschaftlichen Natur sei (was korrekt ist), funktioniert die menschliche Natur / Gesellschaft besser, wenn man Religion bzw. das Matrixelement „Sanctity / Degradation“ nicht vernachlässigt. Der Mensch sei dadurch auch glücklicher. Das mag für diesen Fall nicht unplausibel klingen, hat aber den intellektuellen Schönheitsfehler, dass er nicht auf andere ebenso valide Beispiele übertragbar ist. So sehen viele Anthropologen bzw. Sozialpsychologen auch Gewalt und Krieg als einen fixen Bestandteil der humanen Grundausstattung an. Manche gehen sogar soweit, regelmäßige Genozide für „natürlich“ zu halten.
Man sieht nun sofort, dass damit dieses Argumentationsmuster ad absurdum geführt wird. Denn wenn Kriege ein fester Bestandteil der menschlichen Natur sind, wird niemand ernsthaft fordern, sie regelmäßig zu führen, weil es Teile der menschlichen Natur zufrieden stelle und zu einem besseren Funktionieren der Gesellschaft führe. Dieselbe Frage stellt sich bei der Religion: Soll man sie trotz der auch von Haidt eingeräumten Nachteile fördern und befolgen, obwohl sie auf Unwahrheiten beruht, nur weil sich das menschliche Hirn evolutionär so entwickelte?
Gerade solche Gedankenanstöße sprechen aber sehr für und nicht gegen The Righteous Mind.
Jonathan Haidt: The Righteous Mind. Why good people are divided by politics and religion (Vintage)
ein Draft meiner Rezension:
Ein ärgerliches Buch. Haidts Moral Fondations Theory is voller Fehler: mindestens 3 der von ihm untersuchten Dimensionen von Moral haben nach kurzem Nachdenken wenig bis nichts mit Moral zu tun, etwa die ‚Reinheit‘. Die untersuchten Dimensionen sind auch nicht unabhängig, nach Grey korrellieren ‚Harm‘ und ‚Purity‘, die scheinbar unabhängigsten Dimensionen, mit r= 0,87!
Ex falso quodlibet, damit werden alle weiteren Kapitel obsolet: Haidt versucht eine evolutionstheoretische Begründung der unterschiedlichen Moralsysteme von Liberalen und Konservativen. Die Forschung zeigt aber, das es bei moralischen Themen immer um ‚Harm‘, ‚Fairness‘, und ‚Oppresssion‘ geht, bei Liberalen und Konservativen. Diese ticken gleich. Zuerst proklamiert Haidt unterschiedliche Moralsysteme (Konservative sind hier angeblich von Vorteil, weil sie alle 6 Dimensionen in gleicher Ausprägung haben, Liberale nur 2 Diemensionen berücksichtigen), und liefert dann Rezepte, wie sich die beiden Gruppen wieder besser verstehen können. Die Ergebnisse sind wertlos.
Aergerlich auch die Berufung auf die unter Evolutionstheoretikern umstrittene Theorie der Gruppenselektion, um damit für die Religion als nützlichen Irrläufer der Evolution zu argumentieren. Kritik am ‚New Atheism‘ gibt es wesentlich fundiertere.
Dass Haidt in den Staaten als wichtiger Intellektueller herumgereicht wird, sagt einiges über die Qualität der psychologischen Forschung dort. An einer europäischen Uni ginge das als Diplomarbeit nicht durch. Haidt, nennt seine Kritiker auf seiner eigenen Seite. Moralisch spricht das für ihn, sonst aber nichts. http://www.moralfoundations.org/critiques
Vielleicht passt dazu „Der nichtreligiöse gute Mensch“ von Victoria Rationi, einer angehenden Religionspsychologin …
Toll, dass Sie dieses Buch rezensiert haben!
Martin
Danke für den Tipp!
Ich denke es gibt eine gewisse Blindheit der US Amerikaner gegenüber der tief verwurzelten Gewalt im eigenen Land, die durch das noch immer legale Schlagen von Kindern (sogar an Schulen: „Paddling“) verursacht ist. Eine politische Theorie, die darauf eingeht ist das „Strict father model“ von George Lakoff. Dieses Jahr hat übrigens Sven Fuchs in „Die Kindheit ist politisch“ auch die Kindheit einiger US Präsidenten untersucht – und auch hier ist diese Gewalt deutlich sichtbar. Wär toll, wenn Sie auch darüber einmal schreiben. Es ist sowieso ein Skandal, dass die USA das letzte Land sind, die die UN Kinderrechtskonvention noch nicht ratifiziert haben.
Beste Grüße, Georg K.