Vieler Orts ist zu lesen, Sebastian Kurz sei ein begabter Politiker. Ein politisches Talent! Wie sonst hätte der junge Mann so schnell eine so große Gefolgschaft hinter sich versammeln und es zum Bundeskanzler Österreichs bringen können!
Wenn man einen rein realistischen Politikbegriff anlegt, mag diese Bewertung sogar korrekt sein. Niemand kann bestreiten, dass Sebastian Kurz einen phänomenalen Aufstieg hinlegte.
Politische Begabung auf Machtakkumulation zu beschränken, greift in einer Demokratie aber viel zu kurz. Der Kern einer Demokratie besteht nicht – und das wird einige überraschen – im Prinzip der Mehrheitsentscheidung. Der Kern einer Demokratie besteht primär aus einem festen Wertekanon. Zu nennen wären beispielsweise die Achtung der Menschenwürde, Gleichheit vor dem Gesetz und eine strikte Gewaltenteilung. Diese Prinzipien sind allen Wahlverfahren immer vorgeordnet. Eine Mehrheitsentscheidung kann diese Prinzipien also niemals außer Kraft setzen. Selbst wenn 80 Prozent aller Wähler entschieden, es sollten alle Rothaarigen unter 30 Jahren eingesperrt werden, wäre das keine demokratisch legitime Entscheidung.
Daraus folgt: Das Gewinnen von Wahlen kann in einer Demokratie niemals hinreichend sein, um als begabter Politiker zu gelten. Begabte Politiker nutzen ihr grundlegendes anthropologisches Verständnis, um ihre Gesellschaft zu verbessern. Sie stärken die besten Seiten der Menschen und schwächen die schlechten Seiten. Sie inspirieren ihre Gefolgschaft über ihre Schwächen und über ihre niedrigen Instinkte hinauszuwachsen. Sie fördern die Zivilisation und Schwächen die Barbarei. Wenn ein begabter demokratischer Politiker abtritt, dann ist die dünne Decke der Zivilisation wieder etwas dicker geworden.
Damit zurück zu unserem Bundeskanzler. Seine Strategie besteht in der konträren Vorgehensweise: Er arbeitet mit großer Energie daran, die Decke der Zivilisation dünner zu machen.
Dazu manipuliert er geschickt die niedrigen Instinkte der Österreicher, indem er die irrationalen Ängste vor Migranten täglich auf der Agenda behält und sich zu diesem Zweck mit den skrupellosen Krawallmedien des Landes gemein macht. Frei von jeglichen Fakten werden die größten Probleme des Landes ignoriert, um negative Emotionen zu schüren.
Wie leicht dies fällt, wissen wir von der Hirnforschung. Fremdenfeindlichkeit ist leider ein anthropologisch tief verankerter Reflex. Er kann sehr leicht aktiviert werden. Diesen Reflex aktiv zu managen, ist vielen Menschen viel zu anstrengend. Gleichzeitig greifen hier noch andere psychologische Mechanismen verstärkend ein, wie die neuronale Bevorzugung einfache Lösungen gegenüberkomplexen Analysen. Die Liste ließe sich lange noch fortsetzen.
Nicht genug, dass Sebastian Kurz und sein Team diese Ängste systematisch für ihre Zwecke ausnutzen. Sie sind sogar zynisch genug, das Biotop für Xenophobie mit allen Mitteln zu fördern. Nichts anderes ist es nämlich, wenn Integrationsmittel gestrichen, Ausländer mangels Sozialleistungen absichtlich in die Kriminalität getrieben oder vom Innenminister engagiert moralbefreite Rechtsextreme als Polizisten angeworben werden.
Hinter dieser neuronalen Nebelwand wird dann jene Politik schambefreit umgesetzt, welche Kurzens finanzielle Gönner bei ihm mittels Wahlkampfspenden bestellt haben. Die vielen Beispiele sind zu bekannt als dass ich sie hier aufzählen müsste. Die vollständige Einkaufsliste würde ich freilich gerne kennen.
Sebastian Kurz betreibt seine Politik wie ein Drogendealer. Statt seinen Kunden Heroin anzudrehen, verkauft er seiner Klientel Xenophobie. Die meisten Österreicher sind inzwischen süchtig nach ihrer täglichen Dosis Hass. Nichts ist wichtiger als der tägliche Schuss. Die eigene Gesundheit nicht. Die eigene Familie nicht. Man ist zu jeder Schäbigkeit bereit, solange die nächste Dosis gesichert ist.
Für diese Vorgehensweise fallen mir viele Bezeichnungen ein. „Begabung“ ist nicht darunter.