Es ist ein Artikel in der New York Review of Books, der mich auf diese in den USA geschriebenen Memoiren aufmerksam macht. Marjorie Perloff – in Wien 1931 als Gabriele Mintz geboren – muss als Siebenjährige aus Wien vor den Nazis fliehen und wird schließlich Professorin für Vergleichende Literaturwissenschaft in Stanford. In The Vienna Paradox greift sie also für ihre Wiener Zeit auf sehr frühe Erinnerungen zurück, und ergänzt diese mit einem solide geschriebenen Porträt der Stadt in diesen turbulenten Jahren. Sie stammt aus einer klassischen jüdischen Bildungsbürgerfamilie.
Grandmama’s conversation was peppered with comments that such and such novel or play was really Kitsch and that so and so was uncultured (ungebildet). Everything and everyone was exposed to her razor-sharp judgment.
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Ihren Verwandten ist denn auch ein großer Teil des Buches gewidmet. Herausragend ist etwa die Geschichte ihres Großvaters Richard Schüller. Als einer der wenigen hochrangigen jüdischen Diplomaten im Außenministerium hatte er hervorragende Kontakte. So ist er 1917 der österreichische Chefverhandler für Brest-Litovsk. Nach dem Krieg führt er wichtige Verhandlungen um die Versorgung des stark geschrumpften Österreichs sicher zu stellen. Dabei gewinnt er in vielen Verhandlungen das Vertrauen Mussolinis. Im Juli 1938 muss er schließlich vor den Nazis aus Wien fliehen: Zu Fuß über einen Alpenpass nach Merano. Er wird von italienischen Grenzbeamten festgehalten. Als sich herausstellt, dass sie einen hochrangigen Diplomaten in Gewahrsam haben, fragen sie sicherheitshalber in Rom nach weiteren Instruktionen. Das Ergebnis ist folgendes Telegramm: „L’amico Schüller è benvenuto – Mussolini“. Mussolini rettet also einen österreichischen Juden aus persönlicher Verbundenheit vor Hitlers Schergen.
Erwähnenswert ist auch Robert Müller, der überzeugte Nazi unter Gabrieles Verwandten. Als frühes Nazi-Mitglied arbeitet er schließlich direkt für Göring und bringt er es zum Gauleiter. Nach dem Anschluss wird er routinemäßig überprüft. Dummerweise hatte er drei jüdische Großeltern. Nicht zuletzt wegen seiner vielen Sexualkontakte zu arischen Frauen, wird er nach Auschwitz geschickt. Seine letzte Worte dort sind: „Ich war, bin und werde immer Nationalsozialist bleiben.“
Diese Episoden vor allem sind es, welche das Buch sehr lesenswert machen. Auch wenn man es hier stilistisch eindeutig mit professoraler Memoirenprosa zu tun hat.
Spannend ist auch die Schilderung der ersten Jahre in der Emigration. Die Integration war nicht sehr einfach und man bleibt noch einige Zeit gerne unter sich. Eine empfehlenswerte Lektüre für alle, die sich für Wiener Emigranten interessieren.
Marjorie Perloff: The Vienna Paradox. A Memoir. (New Directions Book)