…weil ich es für die vornehmste Aufgabe der Geschichtsschreibung halte, dafür zu sorgen, daß tüchtige Leistungen nicht verschwiegen werden und andererseits Bosheit in Wort und Tat sich vor der Schande bei der Nachwelt fürchten muß.
Die politischen Ereignisse der letzten zwei Jahre zeigen einmal mehr: Die Menschen lernen nichts aus der Geschichte. Das betrifft primär die Menschen als Individuen, vom Wähler bis zum Politiker, weil im Zweifels- oder gar Krisenfall bei der Mehrheit meistens Instinkte wie Angst, Neid oder Gier das Ruder übernehmen. Deshalb wählen etwa Menschen mit hübschen Häusern und hurtigen Autos FPÖ, obwohl viele von ihnen noch nie einen Flüchtling sahen. Deshalb greifen Politiker wie Donald Trump oder Sebastian Kurz in ihre Instinkt-Werkzeugkiste. Deshalb schreiben brave Angestellte in der digitalen Anonymität geifernde Hasspostings.
Während das Lernen aus der Geschichte im historischen Alltag nicht zu finden ist, ist es auf einer abstrakteren Ebene durchaus vorhanden. Die Buchläden beispielsweise sind derzeit wegen der aktuellen Entwicklung voller Titel, welche die Gegenwart in der Geschichte spiegeln. Wer also den intellektuellen Anspruch hat, die Gegenwart zu verstehen, wird nie ohne eine Studium der Geschichte auskommen.
Die Königsklasse dieser Disziplin ist freilich das Lesen historischer Historiker, weil hier die Zeitdifferenz zum Geschriebenen eine spannende zusätzliche Reflexionsebene einzieht. Jeder sollte deshalb Herodot [Notiz] und Thukydides [Notiz] lesen.
Der Aufstieg und Fall des römischen Reiches bietet ebenfalls sehr reichhaltiges Anschauungsmaterial und Tacitus‘ Annalen sind eine der erhellendsten Originalquellen, die man lesen kann. Keine Selbstverständlichkeit, bedenkt man, dass es für die beiden überlieferten Teile der Schrift jeweils nur ein einziges Manuskript gibt. Im Mittelalter ist Tacitus nicht sehr populär, weil er Empathie mit den Christenverfolgungen Neros vermissen lässt. Immerhin ist er der erste römische Historiker, welcher Jesus samt seiner seltsamen Religion erwähnt. Komplett sind die Annalen aber trotzdem nicht. Es fehlen die Bücher sieben bis zehn komplett sowie kleinere Teile anderer Bücher.
Die größten Blöcke des Werks sind jene über die Regierungszeit des Tiberius und des Neros. Letztere sind denn auch am berühmtesten und die wichtigste Quelle für jede Menge Romane, Filme und Serien. Den Auftakt darf aber noch Augustus machen, dessen autoritäre Machtergreifung die Zeitlosigkeit des Vorgangs zeigt:
Sobald er dann die Soldaten durch Geschenke, das Volk durch eine Getreidespende, alle durch den verführerischen Reiz des Friedens gewonnen hatte, schob er sich allmählich empor und zog die Befugnisse des Senats, der Behörden, des Gesetzgebers an sich, ohne daß sich jemand widersetzte; denn die mutigsten Männer waren den Kämpfen oder der Ächtung zum Opfer gefallen, während die übrigen Adeligen, je mehr einer zur Unterwürfigkeit bereit war, durch Reichtum und Ehrenstellen nach oben gelangten und als Günstlinge der neuen Verhältnisse die Sicherheit der Gegenwart den Gefahren der Vergangenheit vorzogen.
Auch die Provinzen waren jener Ordnung der Dinge nicht abgeneigt. Verleidet war ihnen Senats- und Volksherrschaft wegen der Machtkämpfe der führenden Männer und der Habsucht der Beamten; schwach war der Schutz der Gesetze, die durch Eigenmächtigkeit, politische Umtriebe, vor allem durch Bestechung unwirksam gemacht wurden.
[S. 25/26]
Man muss freilich wissen, dass Tacitus selbst teil des Systems war über das er schreibt. Nicht nur lange als Senator, sondern später auch als Gouverneur der Provinz Asia (112-113).
Das Buch ist voller Zitate, die an die Gegenwart erinnern. Bestürzend auch, wie sich römische Autokraten ebenfalls der Justiz bedienten, um ihre Gegner zum Schweigen zu bringen und sie zu demütigen. In den Details gibt es viele Unterschiede, aber im Prinzip ist es exakt dieselbe Taktik, wie sie heutige Diktatoren anwenden. Putin und Erdogan sind hier zwei exzellente Beispiele. Das Buch 4 schildert viele dieser Scheinprozesse.
Inhaltliche Höhepunkte der Annalen sind Aufstieg und Fall des Intriganten Sejanus (Buch 4 und 5), die grausamen Umtriebe des Tiberius (Buch 6) und natürlich das Leben des Nero. Tacitus schildert besonders ausführlich die Ermordung seiner Mutter Agripinna (Buch 14). Diese Passagen lesen sich sehr spannend. Aufgrund des verdichteten Stils, den man auch in der Übersetzung noch bemerkt, sind nicht alle Passagen so leserfreundlich. Als Ausgleich gibt es aber viele sehr treffende und pointierte Formulierungen.
Insgesamt ist die Stimmung des Buches pessimistisch. Tacitus sucht explizit und implizit eine Antwort auf die Frage, wie Rom gute Kaiser bekommen könnte, kann aber keine plausible Antwort darauf finden. Wir wissen ja auch heute noch nicht, wie wir zuverlässig zu kompetenten Politikern kommen könnten.