Retif de la Bretonne: Monsieur Nicolas oder Das Enthüllte Menschenherz

Einer der ungewöhnlichsten Klassiker mit dem ich mich in den letzten Jahren beschäftigte. Autor und Titel sind mir in der Vergangenheit schon mehrmals begegnet, aber nie mit einer dringenden Lektüre-Empfehlung verbunden. Vor zwei Jahren erschien nun diese von Reinhard Kaiser herausgegebene und hervorragend übersetzte deutsche Ausgabe. Ohne Zweifel ein sehr verdienstvolles Projekt, zumal er den Text sehr präzise kommentiert und der Band schön gestaltet ist (zwei Lesebändchen!). Das Manuskript beendet Retif 1785. Später werden 3300 gedruckte Seiten daraus. Die Publikationsgeschichte wird nicht zuletzt durch die Französische Revolution erschwert. Das Buch bleibt über Jahrhunderte ein Geheimtipp. Erst 1989 erscheint es vollständig in der Bibliothèque de la Pleiade und wird damit als französischer Klassiker kanonisiert. Die literaturwissenschaftliche Faszination mit Monsieur Nicolas teile ich. Als Kunstwerk zeigt der Text aber auch viele Schwächen.

Retif schreibt wohl die erste „Enthüllungsautobiographie“ der Moderne, was ihm alleine einen wichtigen Platz in der Literaturgeschichte sichert. Dabei fokussiert er primär auf seine erotischen Eskapaden von Kindheit an, und ist dabei oft sehr explizit. Skandalös explizit für seine Zeit. Er wächst als Sohn eines reichen und angesehenen Bauern im Burgund auf, wird schnell als sehr intelligent erkannt, darf Latein lernen und als Schüler studieren, landet aber letztendlich als ein Druckerlehrling in der Stadt. Das wird als Erwachsener auch sein Beruf bleiben. Zusätzlich zu dem des Schriftstellers, wo Retif zu den ersten Autoren gehört, die zumindest zeitweise von ihrer Arbeit leben können. Zweitberuf ist natürlich seine Liebe zum weiblichen Geschlecht. Abgesehen von diesen erotischen Eskapaden ist Monsieur Nicolas eine sozialgeschichtliche Fundgrube vom Leben der Bauern bis zur Schilderung des zeitgenössischen Handwerks von innen.

Ästhetisch überzeugt mich der Text allerdings nur stellenweise. Retif war ein Vielschreiber. Er schrieb 44 Werke in 187 Bänden. Insgesamt etwa 57.000 Seiten. Da bleibt keine Zeit für textliche Verdichtung oder strukturelle Sorgfalt. Natürlich könnte man das Ausufernde heutzutage als (post)modern abfeiern, das wäre aber eine ahistorische Bewertung. Verglichen mit sorgfältig komponierten Werken aus dem 18. Jahrhundert wie etwa Sternes Tristram Shandy [Notiz] bleibt ein schaler Nachgeschmack beim Lesen. Der Stil kippt auch immer wieder mal ins Kolportagehafte. Vielen Szenen fehlt der Sinn für narrative Ökonomie. Das Lesevergnügen hielt sich deshalb für mich in Grenzen.

  • Retif de la Bretonne: Monsieur Nicolas oder Das Enthüllte Menschenherz (Galiani Berlin)
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