Von allen mir bekannten Klassikern ist Jude the Obscure (1895) wohl am misogynsten. Das ist insofern erstaunlich, weil es gerade im 19. Jahrhundert sehr viele mit Empathie bedachte Frauenfiguren gibt, von Madame Bovary bis Effi Briest.
Misogyn vor allem deshalb, weil fast alle Frauen in dem Buch sich charakterlich mies verhalten. Das fängt mir der eigentlichen Hauptfigur, Sue Bridehead an, die erst als frigid-sadistische und später dann zusätzlich als bigotte Person geschildert wird. Hardy motiviert das zum Teil zwar durch die sozialen Umstände, aber das ist nicht hinreichend als literarische Herleitung. Arabella Donn ist als erste Gattin Jude Fawleys die zweite wichtige Frau des Romans, deren Rolle ebenfalls primär darin besteht, den armen Jude zu quälen. So lockt sie ihn mit vergleichsweise perfiden Methoden in eine zweite Ehe hinein.
Schilderte Hardy nun die Männer ähnlich gehässig, wäre das eine akzeptable sehr misanthrope Gesellschaftskritik. Allerdings werden die beiden Männer im Zentrum des Romans primär als arme Opfer ihrer „bösen“ Frauen dargestellt, ja im Vergleich zu ihnen sogar ins Heilige stilisiert, wie der arme Lehrer Richard Phillotson, der seine Gattin Sue heroisch freiwillig zu Jude zwecks dauerhaftem Ehebruch ziehen lässt. Warum stimmt er der wilden Ehe seine Frau entgegen aller Konventionen und entgegen aller Ratschläge seines Umfelds zu? Weil er halt ein so guter Mensch ist! Auch Jude wird von Hardy oft in diese von Frauen verursachte Opferrolle gestellt, bei ihm kommt aber auch noch eine gute Portion Selbstbetrug dazu.
Diese Misogynie hat mir die Lesefreude an dem Roman doch getrübt, obwohl er auch viele Stärken hat. Da sind einmal die im engeren Sinn literarischen Vorzüge. Die fiktive englische Provinz Wessex, in der sich das Drama entfaltet, ist sehr anschaulich geschildert. Der Aufbau des Romans ist strukturell stringent, und der Inhalt für spätviktorianische Verhältnisse ausgesprochen provokant. Es wird von Hardy nämlich an zwei zentralen Säulen der englischen Gesellschaft gerüttelt: Der Ehe und der Religion. Nachdem Sue ihren Phillotson mit seinem Segen verlässt, um mit Jude viele Jahre lang in wilder Ehe zu leben und dabei zwei Kinder zu zeugen, zeigt Hardy seinem Publikum, wie belanglose offizielle Sakramente eigentlich sind, und dass eine Ehe eigentlich keiner religiösen Sanktionierung bedarf. Selbstverständlich reagiert ihr Umfeld auf diesen Normbruch mit zahlreichen Sanktionen.
Die kritische Haltung zur Religion wird insofern ironisch gebrochen als es der große Traum des jungen Jude ist, ein gelehrter Theologe zu werden. Er liest sich autodidaktisch eine beachtliche Bildung an, lernt Altgriechisch und Latein, aber schafft es als armes Waisenkind naturgemäß nicht, diese Klassenschranke zu überwinden. Stattdessen arbeitet er als Steinmetz an den Gebäuden und Kirchen jener Kaste, deren Teil er so gerne geworden wäre. „Jude the Obscure“ ist also nicht zuletzt auch ein Bildungsroman. Die gekonnte Verknüpfung dieser unterschiedlichen thematischen Stränge ist ebenfalls eine der großen Stärken des Romans.
Thomas Hardy: Jude the Obscure (Norton Critical Editions)