Einer meiner Lieblingsklassiker, über den noch keine Notiz existiert! Für Nietzsche waren die Gespräche “das beste deutsche Buch, das es gibt.” Ganz soweit würde ich jetzt nicht gehen, aber es gibt tatsächlich wenige Bücher der deutschen Literatur, die so ergiebig sind. Klassiker zeichnen sich dadurch aus, dass sie viele interessante Metaebenen mitbringen. Oft sind diese Ebenen etwas “versteckt” und erschließen sich nur Lesenden mit einiger Erfahrung. Hier drängen sie sich geradezu auf und geben der Lektüre einen großen intellektuellen Reiz.
Noch bevor man überhaupt ins Inhaltliche einsteigt, erfährt man direkt und indirekt jede Menge über Goethes Charakter und über den damaligen Literaturbetrieb. Goethe nutzt Eckermanns Begeisterung für sich selbst nämlich skrupellos aus. In der sehr lesenswerten Einleitung zum Buch schildert Eckermann seine Herkunft aus ärmlichen Verhältnissen. Als Kind zieht er mit seinem hausierenden Vater von Dorf zu Dorf. Seine intellektuelle Begabung fällt jedoch auf. Trotzdem muss er sowohl das Gymnasium als auch sein philologisches Studium in Göttingen abbrechen. Er schafft es allerdings mit der Unterstützung der Familie eines Studienfreundes seine Beyträge zur Poesie mit besonderer Hinweisung auf Goethe zu schreiben und das Manuskript an Goethe zu schicken. Goethe ist inzwischen weit über 70 Jahre alt und sehr rührig um seinen Nachruhm bemüht. Als der junge Eckermann im Juni 1823 bei ihm vorstellig wird, erkennt er schnell dessen philologische Qualitäten und überzeugt ihn, als sein Mitarbeiter in Weimar zu bleiben. Goethe sieht sofort, dass Eckermann wegen seiner Herkunft kaum materiellen Ansprüche machen wird. Goethe bezahlt ihn also mit seiner Berühmtheit und Eckermann gibt sich damit zufrieden. Er wird sehr lange honorarfrei für sein Idol arbeiten, und verdient sich seinen Lebensunterhalt durch Gelegenheitsjobs, etwa indem er jungen Engländern auf Bildungsreise Deutschstunden gibt.
Goethe ist bereits früh über Eckermanns “Gespräche-Projekt” informiert und weiß natürlich, dass ihn Eckermann von seiner vorteilhaftesten Seite zeigen wird. Tatsächlich werden etwa Goethes cholerische Anfälle, von denen wir aus anderen Quellen wissen, wie manches andere ausgespart.
Es ist wichtig diese Hintergründe zu kennen, wenn man das Buch liest. Sie sollten aber nicht den Weg dazu verstellen, diese intellektuelle Fundgrube über die Ansichten des alten Goethe zu genießen. Es gibt kaum ein Thema über das der alte Herr nicht Interessantes zu sagen hätte. Selbst der “Unfug” etwa über Newton, um nur ein Beispiel zu nennen, ist erhellend.
Obwohl Eckermann seinem Helden Goethe so wohlwollend gegenübersteht, führt das nicht dazu, dass er beispielsweise Goethes teils sich widersprechende Ansichten redigieren würde. Man bekommt von ihm ein weites “ungeschöntes” Spektrum von Goethes Auffassungen angeboten. Das gilt speziell für seine ästhetischen Ansichten. Was die Politik angeht, ist sich die Goethe-Forschung weitgehend einig, dass ihn Eckermann liberaler und weniger als “Fürstenknecht” darstellt, als er es ihn Wirklichkeit wohl wahr. Als Eckermann sein Buch schreibt, speziell den letzten Band, waren ja bereits revolutionäre Zeiten in Deutschland angebrochen.
Selbstverständlich erfährt man auch viel Anekdotisches. Da gibt es den Studenten, der Goethe brieflich darum bittet, er möge ihm doch schnell die Notizen zum zweiten Teil des Fausts schicken – er würde ihn gerne zu Ende schreiben. Der Faust ist überhaupt ein wichtiges Stichwort: Dass Goethe den famosen zweiten Teil schreibt, ist zweifellos eines der größten Verdienste des jungen Eckermann. Immer wieder drängt und motiviert er seinen alten Freund, dieses Projekt doch endlich anzugehen.
Man stößt immer wieder auf Überraschendes, etwa auf „feministische“ Aussagen des alten weißen Mannes:
Gleicherweise gibt es unter deutschen Frauenzimmern geniale Wesen, die einen ganz vortrefflichen Styl schreiben, so daß sie sogar manche unser gepriesenen Schriftsteller übertreffen.
Auf bis heute gültige Bildungsratschläge:
Denn den Geschmack kann man nicht am Mittelgut bilden, sondern nur am Allervorzüglichsten.
Auf amüsante Abrechnungen mit seinen Feinden:
Zuerst nenne ich meine Gegner aus Dummheit; es sind solche, die mich nicht verstanden, und die mich tadelten, ohne mich zu kennen. Diese ansehnliche Masse hat mir in meinem Leben viele Langeweile gemacht; doch es soll ihnen verziehen sein, denn sie wußten nicht was sie taten.
Eine zweite große Menge bilden sodann meine Neider. Diese Leute gönnen mir das Glück und die ehrenvolle Stellung nicht, die ich durch mein Talent mir erworben. Sie zerren an meinem Ruhm und hätten mich gerne vernichtet.
Ferner kommt eine große Anzahl derer, die aus Mangel an eigenem Sukzeß meine Gegner geworden. Es sind begabte Talente darunter, allein sie können mir nicht verzeihen, daß ich sie verdunkele.
Auf aparte Apercus:
Man muß keine Jugendfehler ins Alter hineinnehmen; denn das Alter führt seine eigenen Mängel mit sich.
Auf Weisheiten des Alters:
Es ist mit dem Ratgeben ein eigenes Ding, sagte Goethe, und wenn man eine Weile in der Welt gesehen hat, wie die gescheitesten Dinge mißlingen, und das Absurdeste oft zu einem glücklichen Ziele führt, so kommt man wohl davon zurück, jemanden einen Rat erteilen zu wollen.
Auf viele Meinungen zur Weltliteratur:
Alle, die dem Euripides das Erhabene abgesprochen, waren arme Heringe, und einer solchen Erhebung nicht fähig; oder sie waren unverschämte Charlatane, die durch Anmaßlichkeit in den Augen einer schwachen Welt mehr aus sich machen wollten und auch wirklich machten als sie waren.
Ich wäre versucht, das halbe Buch hier abzuschreiben. Lesen Sie es aber besser selbst!
Johan Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens (Münchner Goetheausgabe Band 19)