Anna Haag: „Denken ist heute überhaupt nicht mehr Mode“. Tagebücher 1940 – 1945

Es verblüfft, dass dieses beeindruckende Buch erst jetzt erscheint. Herausgeberin Jennifer Holleis gebührt dafür großer Dank. Schön auch, dass diese Tagebücher im Reclam Verlag erscheinen – als gebundene Ausgabe. Die Schriftstellerin Anna Haag verlebt die Nazizeit in einer Siedlung am Rand von Stuttgart. Wie ihr Gatte und ihre Tochter ist sie eine überzeugte Nazigegnerin und beginnt ab 1940 ihren „nationalsozialistischen“ Kriegsalltag in Schulheften zu dokumentieren. Immer wieder klebt sie auch Nazipropaganda (Zeitungsartikel usw.) ein und kommentiert diese.

Ihr erster Eintrag setzt bereits den Ton:

Wozu wohl ein Mozart, ein Beethoven, ein Goethe gelebt und ihre Werke geschaffen haben, wenn wir Heutigen nichts anderes wissen als töten und zerstören?

Mir ist bis jetzt keine Quelle untergekommen, die so leicht zugänglich die deutsche und österreichische Nachkriegsverlogenheit des Nicht-Wissens über die zahllosen Naziverbrechen entlarvt. Viele nehmen ja bis heute naiverweise an, die Nazis hätten sich ihrer Verbrechen geschämt und alles getan, diese zu verheimlichen. Woher also sollte ein „normaler“ Mensch davon wissen? Dabei ist genau das Gegenteil wahr: Die Nazis waren sehr stolz auf ihre Verbrechen. Sie haben an Schulen Vorträge darüber gehalten, sie haben in Zugabteilen damit angegeben und sie haben im Urlaub von ihren Erlebnissen an der Front erzählt.

Anna Haag schreibt diese Dinge auf:

Ein junger SS-Mann, der in Polen, wie er sich ausdrückte ‚im Taglohn‘ morden musste, sagte: entweder werde er wahnsinnig, oder er erschieße sich, oder er mache das Morden in Zukunft zu seinem Gewerbe und werde ein ganz abgrundtief schlechter Mensch.
– 14.5. 41

Der Mann, der die Wasseruhr abliest und das Geld kassiert, also ein recht kleiner städtischer Beamter, machte gestern seinem Herzen auch Luft als er bei mir kassierte. Die Christen- und die Judenverfolgung vor allem ist es, die ihn krämt, die Behandlung russischer Gefangner, die Ermordung tausender Unschuldiger. Er erzählt von einem Verwandten, einem SS-Mann, der berichtet habe, dass er 500 Juden, Frauen und Kinder, in Polen habe abknallen müssen, dass viele nicht tot gewesen seien, und dass man gleich andere auf sie geworfen habe“.
– 24.11. 41

Nun werden die Wohnungen der abtransportierten Juden ausgeräubert. Pfui! Was für eine widerliche Räuberbande sind wir doch! Tun solche Dinge und schämen uns nicht, fühlen uns dabei als ‚Herrenvolk‘, das ‚Ordnung‘ in den ‚europäischen Saustall‘ bringt!
– 22.12. 41

Die Bauern wissen, dass man den Osten systematisch entvölkert, um dort unsere deutschen kleinen Bauern auf staatlichen Gütern anzusiedeln.
– 27.12. 41

Mein Nachbar erzählte mir gestern:
Alle gefangenen Chargen, vom Unteroffizier aufwärts, werden bei der Gefangennahme sofort erschossen. Alle Juden, Frauen und Kinder werden erledigt.
– 4.1. 42

Es gibt in Deutschland Menschen, die vorgeben, noch nie etwas von den Judenmassakern, von den Judenverfolgungen überhaupt gehört zu haben. Man fasst sich an den Kopf.
– 3.7. 42

Ich fuhr mit zwei Urlaubern im Zug: einer kam aus dem Westen, der andere vom Osten. Der vom Westen berichtete vom Hass der Bevölkerung, der vom Osten erzählte von den Massenerschießungen der Juden…
– 26.9. 42

Immer wieder schreibt sie ihre Verzweiflung darüber auf, wie so viele Deutsche auf den „Nichtsnutz aus Braunau“ hereinfallen konnten:

Zuweilen habe ich den Eindruck, als ob ein Massenwahnsinn das deutsche Volk ergriffen habe und als ob ein Gehirnschwund im großen Ausmaß um sich fräße. Denken ist heute überhaupt nicht mehr Mode.
– 24.1. 41

Ich habe die Wochenschau gesehen. Führers Geburtstag im Führer-Hauptquartier (wenn ich Arzt wäre, so würde ich anordnen, dass der Mann in ein Irrenhaus käme, denn der Wahnsinn lodert aus seinem brutalen Gesicht).
– 7.5. 41

Ich möchte ernsthaft wissen, wie viele ‚Durchschnittsdeutsche‘ wir haben. Dieser ist ein ‚Allesfresser‘: er ist fromm, gottgläubig, christusgläubig, hitlergläubig, vaterlandsgläubig, er ist voller Mitleid und – voll entsetzlicher Bestialität. Es schmerzt ihn, ein kleines Tier leiden zu sehen, und er fühlt sich edel in seinem Mitleid, aber gleichzeitig ist es im ‚höheren‘ (nationalistischen) Sinn notwendig, ganze Völker auszurotten, sie auf die scheußlichste Weise vom Erdboden…zu ‚vertilgen‘ (wie Hitler sagt).
– 1941

Ihre Angst vor der Gestapo, das staatlich geförderte Denunziantentum, die zahlreichen Schikanen für Nicht-Nazis werden ebenfalls ausführlich thematisiert:

Acht Tage lang habe ich nicht gewagt, meine Aufzeichnungen aus ihrem Versteck im Kohlenraum hervorzuholen. Viel hat sich ereignet inzwischen, viel, viel! Mit sitzt die Gestapo im Genick (dank den lieben Nachbarinnen!). Mein guter Mann sah mich bereits im KZ.
– 26.6. 41

Je weiter der Krieg fortschreitend, desto mehr rückt der mühsame Kriegsalltag in den Vordergrund ihrer Einträge:

Im Garten unseres Freundes L. liegt noch ein Blindgänger (…) Sein Leben aufs Spiel setzend, ging er nochmal in sein Haus (…) und holte — seine heißgeliebten russischen Schriftsteller aus seiner mächtigen Bibliothek. Sehen Sie: solche Deutsche gibt es auch.
– 14.3. 43

Ich bin krank. Ich habe mich aufs Land zurückgezogen. Fieber. Den Angriff auf unsere Stadt habe ich mit durchlitten, dann bin ich zusammengebrochen.
– 18.3. 44

An den Häuserresten unserer Stadt stehen meist mit Kreide die neuen Anschriften der Ausgebombten angeschrieben oder die der unter Trümmern Begrabenen. Zuweilen liest man: ‚Alles tot. Heil Hitler!‘.
– 9.10. 44

Als die Niederlage absehbar wird, verwandelt sich die gehässigsten Nazis schnell in langjährige Nazigegner:

Die meisten Nazis haben nun Angst und wedeln wie geprügelte Hunde. Was für begehrte Nachbarn sind wir plötzlich geworden! Aber es gibt noch immer Fanatiker.
– 7.4. 45

Unsere Nachbarn rundum vergraben ihre Kostbarkeiten, verbrennen Hitler-Bilder, Partei-Korrespondenzen, Uniformen aller Art.
– 13.4. 45

Alles in allem eine ebenso deprimierende wie erhellende Leseerfahrung. Zählt zweifellos zu den wichtigsten deutschsprachigen Neuerscheinungen dieses Jahres.

Ein Gedanke zu „Anna Haag: „Denken ist heute überhaupt nicht mehr Mode“. Tagebücher 1940 – 1945

  1. Vielen Dank für den interessanten Beitrag, auf den ich leider eben erst gestoßen bin! Herzliche Grüße, Jennifer Holleis (die Herausgeberin der Tagebücher)

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