Wenn ich intellektuell auf hohem Niveau provoziert werden will, lese ich Texte von John Gray. Der englische Philosoph gilt gemeinhin als konservativ, weil er den liberalen Mainstream heftig kritisiert, indem er ihn in ungewohnte geistesgeschichtliche Kontexte stellt. So weist er unermüdlich (und nicht unplausibel!) darauf hin, wie sehr das Christentum sowohl durch seine Erlösungsideologie als auch durch das Konzept der Apokalypse vermeintlich säkulare Weltanschauungen korrumpiert. Was säkular und fortschrittlich erscheint, sei in Wahrheit von religiösem Irrationalismus unterfüttert. Diese Kritik am „liberalism“ im amerikanischen Sinn des Wortes sowie auch wenige Seitenhiebe auf den „woken“ Zeitgeist sind eines seiner Hauptthemen. Er wird auch nicht müde zu betonen, dass vermeintlich gute Intentionen, wie etwa das Schaffen eines „besseren Menschen“ meist in Katastrophen enden.
„Humanity“ is a dangerous fiction. When some human beings are identified as being less human than others, it is a small step to eliminating them. The arrival of Humanity is always preceded by mass killing.
Zusätzlich setzt Gray aber andere wichtige Schwerpunkte. Angelehnt an das berühmte Buch Leviathan von Thomas Hobbes unternimmt Gray einen düsteren Streifzug durch die politische Gegenwart und diagnostiziert einen „Rückfall“ der Geopolitik ins 19. Jahrhundert. Dabei dient ihm der Klassiker als eine Art Stichwortgeber, man darf also keine akademische Auseinandersetzung oder gar einen Kommentar zu Hobbes erwarten.
Die „New Leviathans“ sind für Gray primär Russland und China und mit welcher eiskalten Präzision er die Bösartigkeit der beiden Regime prägnant zusammenfasst, ist allein schon eine brillante intellektuelle Leistung. Er arbeitet heraus, dass Russland inzwischen in Wahrheit eine faschistoide Theokratie ist und belegt das einerseits mit dem Angriffskriegsenthusiasmus der Moskauer Kirche und andererseits mit skurrilen Details. So sind die Atomstreitkräfte Putins fest mit divesen orthodoxen Ritualen ausgestattet. Es gibt mobile Kapellen für Interkontinentalraketen und spezielle Nuklearkleriker.
Bei China fokussiert Gray naturgemäß auch auf die digital-technologischen Komponenten dieser seltsamen kommunistisch-kapitalistischen Diktatur.
Insgesamt The New Leviathans schwächer als seine letzten Bücher, da es vom Titel her mehr verspricht als es halten kann. Es ist eine kluge Sammlung von Gedanken und Analysen, die aber konzeptuell und strukturell nicht sehr stringent sind. So liest sich das Buch eher wie eine Essaysammlung als eine Studie. Trotzdem eine Leseempfehlung.
„Nuklearkleriker“, das ist mal ein Beruf!
Ich fürchte nur, der ist nicht so locker drauf wie der Feldkurat beim „Schweijk“.