September 2024
Eine zweiwöchige organisierte Studienreise durch alle drei Länder des Baltikums ist der Plan. Neben der klassisch historisch-kulturellen Reisemotivation schwingt dieses Mal auch viel an Politik mit. Putin lässt täglich etwa 2000 Soldaten bei seinem Angriffskrieg auf die Ukraine töten bzw. verstümmeln und die baltischen Länder sind bekanntlich ganz oben auf seinem Speisezettel.
Nach der Fahrt durch alle drei Länder ist mir auch klar: Sie werden im Falle des Falles schwer zu verteidigen sein. Zwar gibt es nicht wenige Wälder, aber ansonsten ist alles flach und plan. Ideales Panzerterritorium. Kaum geschrieben kündigen die baltischen Länder an, das Ottawa-Abkommen zu verlassen, damit sie ihre Grenzen zu Russland verminen können. Aber ich greife vor. Von Wien fliege ich erst nach München und von dort dann weiter nach Tallinn. Die Reiseroute beginnt ganz im Norden und endet dann in Vilnius im Süden. Tallinn also. Eine kleine, unter der Woche eher ruhige mittelalterliche Hauptstadt. Am Wochenende kann es dagegen turbulent werden: Helsinki ist nur gut zwei Stunden mit der Fähre entfernt und für Finnen ist der Alkohol in Estland fast geschenkt. Auch Briten kommen gerne auf eine Partynacht.
Schon ein erster Rundgang zeigt wie aufgeladen die politische Stimmung ist. Nicht nur stößt man vor der russischen Botschaft im Zentrum auf eine ganze Ausstellung mit Putins Kriegsverbrechen. Es finden sich auch vor Restaurants immer wieder Solidaritätsadressen bzw. unfreundliche Sprüche Richtung Putin. Hochhäuser werden Nächtens in ukrainischen Farben beleuchtet. Das sollte sich bis zum Ende der Reise in Litauen übrigens nicht mehr ändern.
Das Baltikum wurde bekanntlich immer wieder von unterschiedlichen Nachbarn erobert. Tiefpunkt war wohl das 20. Jahrhundert, an dem sich Hitler und Stalin abwechselten. Diese Traumata bilden die nationalen Geschichtsmuseen der baltischen Länder ab. Das Okkupationsmuseum in Tallinn ist eine intime Angelegenheit. Empfangen wird man von drei alten Menschen, die einem via Video von ihren teils haarsträubenden historischen Erlebnissen erzählen. Es gibt einige nachgebaute Räume angereichert mit materiellen historischen Zeugnissen und didaktischer Digitaltechnik. Eine Gefängniszelle der Nazis etwa oder eine kleine sowjetische Wohnung.
Erwähnenswert ist auch moderne KUMU-Museum etwas außerhalb der Hauptstadt. Es beinhaltet nicht nur eine große Sammlung estnischer Nationalkunst, sondern ist auch selbst ein Meisterwerk der modernen Architektur. Wer – wie ich – von estnischer Kunst kaum etwas weiß, kann sich hier einen guten Überblick verschaffen. Viele der ausgestellten Werke wirken so melancholisch bis traurig, dass auch auf diesem Wege die brutale Geschichte des Landstrichs wieder lebendig wird.
Nach einem Besuch des Lahemaa-Nationalparks inklusive eines ersten luxuriösen deutschen Herrenhauses und einen Abstecher an die Ostsee geht es weiter in Kulturhauptstadt 2024 Tartu, einer kleinen quirligen Universitätsstadt mit einem großen auf einem Hügel über der Stadt gelegenen Park an dessen Spitze sich eine eindrucksvolle Ruine befindet. Am nächsten Tag der Besuch des neuen Nationalmuseums Estlands dort, eine in jeder Hinsicht beeindruckende Institution. Die Geschichte Estlands wird (einschließlich der historischen „Ureinwohner“) didaktisch abwechslungsreich präsentiert. Es gibt jede Menge durchdachter Details. So kann man etwa mit seiner Eintrittskarte die auf E-Paper dargestellten Beschreibungen der Museumsexponate in seine eigene Sprache umstellen, indem man sie einfach hinhält.
Weiter geht es nach Lettland, konkret nach Riga. Privatführung durch die Oper in Riga. Man betritt ein Opernmuseum. Kein Wunder, dass sich dort Filmcrews die Tür in die Hand geben, die eine adäquate historische Kulisse suchen. Jüngst etwa die „Sissy“-Crew. Um der Reise einen roten Faden zu geben, besuche ich wieder das Okkupationsmuseum. Es besteht aus langen gewundenen aus Stellwänden gebauten „Gängen“, mit denen man die lange und gewundene Geschichte Lettlands gut assoziieren kann. Hitler und Holocaust bekommen ihren Platz im „Labyrinth“. Bei weitem ausführlicher werden allerdings die russischen Besatzungszeiten dokumentiert. Auch das nationale Kunstmuseum nehme ich mir wieder vor. Wie schon bei den estnischen Nachbarn bannen auch die lettischen KünstlerInnen viel negative Vibes auf ihre Leinwände. Erschreckte und leere Gesichter. Auch viel Traurigkeit. Als hätte man Francis Bacon mit Edward Hopper kombiniert.
Architektonisch ist Riga ansprechend abwechslungsreich. Während die Altstadt mit ihren Plätzen, engen Gassen und gotischen Kirchen an andere Hansestädte erinnert, gibt es zusätzlich die Jugendstilviertel, die mich sehr an Wien erinnern. Das Jugendstilmuseum dokumentiert diese Bauten auf einer interaktiven Stadtkarte sehr übersichtlich, widmet sich aber ansonsten den Möbeln und der Haushaltsausstattung dieser Zeit. Es finden sich selbstverständlich auch moderne Stadtviertel mit Hochhäusern und ex-sowjetische Bauten.
Wir bleiben noch bei der Architektur. Am nächsten Tag geht es zum Schloss Rundale, dem berühmtesten Barockschloss des Baltikums. Die Sowjets haben es verfallen lassen. Nach der Unabhängigkeit wurde es aber umfassend restauriert und zu einem Museum und Kulturzentrum umgebaut. An Pracht und Ausstattung kann es sich durchaus mit den berühmten Brüdern und Schwestern in Österreich oder Paris messen. Nicht mit Versailles natürlich, aber an Schloss Schönbrunn erinnert mich einiges dort.
Letzte Station in Lettland ist die Ostseestadt Klaipeda. So klein, dass man sie in gut einer Stunde problemlos zu Fuß erkunden kann. Sie ist der Ausgangspunkt für unseren Tagesausflug auf die Kurische Nehrung, die landwirtschaftlich durch ihre teils wüstenhaft wirkenden Dünen tatsächlich einen für Europa sehr ungewöhnlichen Eindruck hinterlässt. Thomas Mann war auch sofort angetan, kaufte sich ein Grundstück dort und beauftragte einen Architekten mit dem Bau eines Sommerhauses. Es war für viele Jahre gedacht. Die Nazis machten freilich einen Strich durch diese Rechnung. Nach dem ersten Sommer 1930 waren nur noch wenige weitere Besuche möglich. Das Haus wurde im Krieg zerstört, aber nach den Originalplänen wieder aufgebaut. Heute ist es ein charmantes Literaturmuseum, das man unbedingt besuchen sollte, wenn es einen auf die Kurische Nährung verschlägt. Ein Bootsausflug führt uns unmittelbar an die russische Seegrenze. Kaliningrad liegt ja nicht weit entfernt.
Am nächsten Tag fahren wir weiter nach Litauen. Nach einem Zwischenstopp an der berühmt-berüchtigten Memel steht die Besichtigung von Kaunas an. Die Stadt gilt als intellektuelles Zentrum des Landes wegen des regen akademischen und kulturellen Lebens dort. Tatsächlich liegt studentisches Flair über der Stadt.
Vilnius! Die dritte Landeshauptstadt in kurzer Zeit und wieder ganz andere Eindrücke als in Tallinn und Riga. Faszinierend wie sich trotz dieser geographischen Nähe drei Großstädte so ganz unterschiedlich entwickelten. In Vilnius dominiert der barocke Prunk. Land & Stadt sind katholisch. Das merkt man auch in der Alltagskultur. Während man in Estland nordische Zurückhaltung verspürt, fühlt man sich in Litauen eher an bayerische Lebensfreude erinnert.
Das Okkupationsmuseum in Vilnius ist das düsterste von allen drei. Es wurde nämlich im ehemaligen KGB-Hauptquartier errichtet. Die Zellen der Gefangenen sind ebenso noch zu besichtigen, wie die Exekutionskammer. Viel deprimierender wird es museal nicht.
Letzter Programmpunkt der Studienreise ist schließlich die Wasserburg von Trakai, eine gute Stunde außerhalb der Hauptstadt. Trotz der Renovierungsgerüste derzeit ein eindrückliches Trutzbauwerk. Das Geschichtsmuseum in der Burg ist auch insofern aufschlussreich, als es teilweise tendenziös ist. Während die Ritterschaft als Helden präsentiert werden, sind die Moslems natürlich ganz klar die Bösen.
Ein Direktflug nach Wien beendet die Reise.
Ich fand das im Baltikum auch immer faszinierend, wie unterschiedlich die drei Hauptstädte sind. Je nachdem, wonach einem gerade der Sinn steht, kann man sich eine aussuchen.
Den Vergleich von Litauen mit Bayern hatte ich noch nicht gehört. Aber das würde erklären, warum ich mich als Bayer so wohl dort gefühlt habe. 🙂
In Vilnius merkt man auch den polnischen Einfluss recht stark, finde ich.
Und eigentlich ist das betont Katholische ja irgendwie komisch, wenn man daran denkt, dass die Gegend der letzte „heidnische“ Landstrich Europas war und durch Kreuzzüge christianisiert wurde.
Die Geschichtsmuseen muss man immer mit ein bisschen Vorsicht genießen, finde ich. Weil die sowjetische Okkupation länger andauerte und weniger weit zurückliegt, ist der Fokus natürlich darauf gerichtet. Aber manchmal geraten im Gegenzug die deutsche Okkupation und vor allem der Holocaust (inklusive Beteiligung der örtlichen Bevölkerung) etwas ins Hintertreffen.
In der Nähe von Trakai kann man tief im Wald auch einen alten jüdischen Friedhof entdecken, der ziemlich verlassen und überwuchert ist. Die in Trakai lebenden Karäer wurden zu ihrem Glück von den Nazis nicht für Juden gehalten, so dass sie teilweise verschont blieben.
Nur eine kleine Korrektur:
Klaipeda, das frühere Memel, ist in Litauen.