Dezember/Januar 2012/13
Eigentlich wollte ich über Weihnachten zum ersten Mal Fuß auf den afrikanischen Kontinent südlich der Sahara setzen: Eine Expeditionsstudienreise nach Äthiopien war gebucht. Sie wurde mangels Teilnehmer abgesagt, und ich werde versuchen, sie im Herbst nachzuholen. Eine Alternative war mit Marokko schnell gefunden. Das Land stand schon lange auf der Wunschliste und gerade nach dem Übergang des arabischen Frühlings in den arabischen Herbst ist Nordafrika ein interessantes Ziel.
Die Lufthansa hatte mit dem Winterflugplan den Direktflug nach Casablanca eingestellt, Royal Air Maroc wäre nur noch zu horrenden Preisen zu buchen gewesen, so dass ich wider besseres Wissen mit Iberia fliege. Service und Komfort ist so schlecht wie erwartet. Man sollte wirklich nur im Notfall in diese überdimensionalen Sardinendosen steigen. Nach einer Nacht beginnt die große Rundreise. Wir werden knapp 3000 Kilometer in fünfzehn Tagen zurücklegen und die wichtigsten Landesteile und Städte des Landes besuchen, mit der Ausnahme des Nordens. Ich hatte mir Marokko als trockenes, verstepptes Land vorgestellt, ähnlich wie Ägypten außerhalb der Nilgegend. Weit gefehlt! Nördlich des Atlas ist Marokko zumindest im Winter so grün wie Zentraleuropa. Landwirtschaft und Weinberge sind zu sehen. Die marokkanischen Weine sind unerwartet gut, eine der positiven Spätfolgen der französischen Kolonialzeit.
Die erste Station ist gleich die berühmteste: Marrakesch. Der Gauklerplatz am späteren Sonntagnachmittag ist zum Bersten voll, anders als einen Tag darauf. Nebst kulinarischen Köstlichkeiten aller Art und Fallensteller für Touristen (mit Affen!) sind tatsächlich jede Menge Einheimische auf dem Platz. Gaukler sieht man zwar nur wenige, aber um die legendären Geschichtenerzähler bilden sich große Menschentrauben, was nicht nur für Literaturwissenschaftler spannend zu beobachten ist. Wer den Orient kennenlernen will, der setze sich für ein paar Stunden mit einem Minztee in ein Straßencafe am Rande des Jemaa el Fna, und beobachte das Treiben dort. Dem Bazar der Stadt ist bereits sehr anzusehen, dass Marrakesch das wichtigste Touristenziel des Landes ist.
Ganz anders noch der riesige Souk von Fes, den ich schon gegen Ende der Reise besuche. Auf 15 labyrinthischen Quadratkilometern bekommt man einen authentischen „mittelalterlichen“ Eindruck. Nirgends auf der Welt sah ich bisher so viele traditionelle Handwerker bei der Arbeit. Neben Schneidern, Schustern, Bäckern und so weiter gibt es Metallbearbeitung in bester Qualität. Was die Waren angeht, wundere ich mich, wie wenig chinesischen Ramsch man sieht, der ja inzwischen weltweit die Märkte dominiert.
Von Marrakesch fahre ich jedoch erst einmal weiter an die Atlantikküste. Essaouira ist ein sehenswerter Küstenort mit einem Fischerhafen, an dem die moderne Zeit ebenso spurlos vorübergegangen ist wie am Bazar der Stadt. Schwere Befestigungen am Atlantik erinnern an die Kolonialzeit und den Sonnenuntergang erlebe ich am Atlantikstrand. Agadir ist dagegen ein im Winter heruntergekommen wirkender klassischer Badeort. Es ist mir ein Rätsel, wieso Menschen an solchen Orten ihre Urlaubszeit verbringen. Den Atlantik sollten wir erst am Ende der Reise in Rabat wiedersehen.
Die Vielfältigkeit Marokkos zeigt sich in den Berglandschaften. Ich besuche den Anti-Atlas, den Atlas und den Mittleren Atlas. Diese Gebirge sind so unterschiedlich als seien sie auf anderen Kontinenten. Man kann das gut anhand der Farben beschreiben. Der Anti-Atlas ist überwiegend beige und sandfarben, wie einige Bilder des Paul Klee. Große, cremefarbene Quader liegen monolithisch in der Landschaft. Lehmbauten alter Berberstämme hängen an den Wänden. Ganz anders im Atlas. Dort gibt es viele Schluchten an deren Boden pittoreske Oasen liegen, in denen sich völlig unpittoresk arme Kleinbauern mit ihren tierbetriebenen Pflügen abquälen. Hinter den Feldern die traditionellen Lehmdörfer. Dazwischen immer öfters modern gebaute Häuser. Die Landbevölkerung zieht zum Arbeiten in die Stadt und lernt das moderne Bauen kennen. Kehrt man später mit Geld in sein altes Dorf zurück, dann baut man modern! Die Nachbarn wollen nicht als rückständig gelten und ziehen nach. Meine Prognose: In zwanzig Jahren wird man das klassische Berberlehmdorf nur noch auf Fotos bewundern können. Doch zurück zu den optischen Eindrücken! Scheint die Sonne schillern die hohen Bergwände dieser Schluchten in vielen Farben. Ganz so als wollte die Geologie uns zurufen: Auch ich bin Kunst! Viele Landschaftsformen erinnern an den Westen der USA. Weniger monumental vielleicht, aber sehr nah verwandt.
Der Mittlere Atlas wiederum erinnert an Zentraleuropa. Wälder gibt es dort und selbst ein Skigebiet. Ich bin im Winter dort und marokkanische Kinder beim Schlittenfahren anzutreffen zerstört ein weiteres Orientklischee des Reisenden aus Europa.
Um das Landschaftliche abzuschließen, sei noch die Sahara erwähnt. Wir Studienreisenden sehen freilich nur den Rand der Wüste, doch für ein kleines Wüstenerlebnis reicht es, wenn man sich die Mühe macht über ein paar Dünen zu stapfen, um dort alleine den Sonnenuntergang beobachten zu können.
Während der Reise sehe ich sehr viel islamische Architektur. Ich kenne Koranschulen und Moscheen bereits aus zahlreichen anderen Ländern, die Paläste und Agadire (Speicherburgen) sind für mich neu. Wirklich alt ist freilich nichts. Was aus Lehm gebaut ist, muss jährlich nachgebessert werden. Europäische Patina darf man in Marokko also nicht erwarten. Der Prunk der Prachtbauten steht jedenfalls wie überall auf der Welt in starkem Kontrast zur Armseligkeit der Dörfer.
Abschließend noch ein paar Worte zur Politik. Außer einigen kleineren Demonstrationen zog der arabische Frühling spurlos an dem Land vorüber. Das liegt an der klugen Politik des Königs, Mohammed VI. Zwar ist die Monarchie immer noch ein absolute, aber im Vergleich zu seinem tyrannischen Vater ist Mohammed VI. ein aufgeklärter Herrscher, der sogar ein wenig an die europäischen gekrönten Aufklärer wie Joseph II. erinnert. In den letzten Jahren stärkte er die Zivilgesellschaft, gab Frauen mehr Rechte und baute die Infrastruktur des Landes aus. Was die Straßen angeht, kann ich das nach den vielen Kilometern kreuz und quer im Land durchaus bestätigen. Gleichzeitig geht der König konsequent gegen Islamisten und andere „Unruhestifter“ vor. Eine Mischung, die zwar aus westlicher Sicht nicht sympathisch ist, dem Land aber eine in dieser Weltregion beneidenswerte Stabilität beschert.