Ich gebe es zu: Es ist eine Nobelpreisanlasslektüre. Allerdings stand Alice Munro schon lange auf meiner Leseliste. Ich besorgte mir einen umfangreichen Auswahlband aus, um mich erstmals ihren Erzählungen zu widmen. Ab und zu las ich dann eine Erzählung, so dass ich mehrere Monate benötigte, dieses Buch abzuschließen. Was den Inhalt der Geschichten angeht, interessieren mich die meisten gar nicht. Sie spielen überwiegend im ländlichen Kanada der Nachkriegszeit, inklusive Kühen, Truthähnen und Bauernhäusern. Hauptfigur ist meistens ein Mädchen oder eine Frau und deren Lebensprobleme. Vieles davon ist offenbar autobiographisch angeregt. Packender werden die Erzählungen, wenn sie eine zusätzliche Dimension bekommen, etwa durch intellektuelle Protagonisten. Zweifellos erschafft Alice Munro viele sehr lebensnahe Frauenfiguren, mit deren Innenleben sich Leserinnen identifizieren können. Erstaunlich ist auch, wie wenig Text die Autorin benötigt, um ihre Protagonisten zum Leben zu erwecken. Manche Erzählungen wirken wie verdichtete Romane. Der Umgang mit der erzählten Zeit ist souverän.
Setzt man Munros Schreibweise aber in Bezug zur literarischen Ästhetik des 20. Jahrhunderts, stellen sich doch viele kritische Fragen. Mögen die Texte innerhalb des Genres „realistische Erzählung“ sehr gelungen sein, heißt das ja noch lange nicht, dass es sich dabei noch um ein zeitgemäßes Schreiben handelt. Munros im Grunde langweiliger Realismus passt so gar nicht mehr in unsere Zeit. Eine kurzer Text von Kafka trifft die Realität besser als eine lange Erzählung von Munro. Ein wohl geschriebener Satz reiht sich an den nächsten wohl geschrieben Satz. Das ist in einer Welt voll schlecht geschriebener Sätze nicht wenig, langweilt mich ästhetisch und formal aber außerordentlich. Diese Selected Stories waren deshalb genügend Alice Munro für mein Leseleben.
Alice Munro: Selected Stories (Vintage Classics)