Irgendwann lese ich auch Frankenstein einmal, dachte ich mir lange. Aber so ein früher Unterhaltungsroman müsse bei meiner Klassikerlektüre ja keine Priorität haben, auch wenn er das Science-Fiction-Genre begründet haben möge.
Selten lag ich mit meiner Einschätzung so falsch!
Dieser Roman ist in Wahrheit von einer Komplexität und Vielschichtigkeit, die sich mit den besten Klassikern messen kann. Berücksichtigt man zusätzlich, dass die junge Mary Shelley (1797 – 1851) das Buch als Achtzehnjährige begann, steigt das Erstaunen noch an.
Viele Erstlingswerke sind von einfacher Struktur. Man denke etwa an die Leiden des jungen Werthers, eines „simplen“ Briefromans. Frankenstein dagegen spielt auf so vielen Ebenen, dass er bereits an postmoderne Romane erinnert.
Am Beginn der Lektüre trifft man zuerst den jungen Abenteurer Captain Robert Walton, der in Briefen an seine Schwester den Fortgang seiner Nordpol-Expedition schildert. Victor Frankenstein kommt erst später ins Spiel: Er wird von Walton aus dem Eismeer gerettet. Was wir nun als die Frankenstein-Geschichte kennen, ist die aufgezeichnete persönliche Erzählung Frankensteins durch Robert Walton.
Als wäre das nicht komplex genug, kommt es danach zu einem weiteren spektakulären Perspektivenwechsel: Die von Frankenstein geschaffene Kreatur erzählt ausführlich ihre Version der Geschichte, bevor der Roman wieder zur Sicht Frankensteins zurückkehrt und am Ende Walton wieder die Erzählung abschließt.
An dieser Stelle vielleicht kurz zur größten ästhetischen Schwäche des Romans: der sprachlichen Uniformität. So elegant sich das Englisch der Shelley liest, so unplausibel ist es natürlich, dass der abenteuerliche Captain, der brillante Wissenschaftler und das gerade Sprechen lernende Monster in fast demselben Stil reden bzw. schreiben. Es gibt keinerlei sprachliche Variation. Das ist sehr schade, weil es das Werk ästhetisch unvollkommen macht.
Positiv dagegen überrascht, wie meisterhaft Shelley mit intertextuellen Bezügen arbeitet. Miltons Paradise Lost [Notiz] etwa spielt eine maßgebliche Rolle in der mythologischen Aufladung des Monsters und wird auch explizit zitiert. Damit ist nur ein Beispiel genannt.
Intellektuell unglaublich anregend ist die inhaltliche Seite des Frankenstein. Es drängen sich bei der Lektüre jede Menge Reflexionen auf, speziell was das Verhältnis von Wissenschaft und Technik zur Gesellschaft betrifft. Frankensteins Experiment geht letztendlich schief: Wissenschaftliches Genie führt damit zu ausgesprochen negativen Folgen.
Freilich wird das von der Autorin nicht so plump angelegt, wie es in dieser kurzen Zusammenfassung klingt. Denn hier kommt die zweite intellektuelle Kategorie ins Spiel: Was macht einen Menschen aus? Diese anthropologische Analyse ist ein semantisches Kernelement des Romans.
Die Kreatur des Frankensteins wird bekanntlich aus Horror sofort nach deren Schöpfung verstoßen. Ihre Intentionen sind nämlich anfänglich die besten. Damit steht sie auch in der Tradition des edlen „Wilden“. Sie stellt allerdings fest, dass alle Menschen aufgrund ihres widerwärtigen Äußeren ausnahmslos geschockt und gewalttätig auf sie reagieren.
Und damit hätten wir das hochaktuelle Thema aufgemacht, wie man mit anders aussehenden Außenseitern umgehen soll und wie sie sich in die Gesellschaft integrieren können. Dieser Aspekt ist es, der den Klassiker heute gelesen quasi tagesaktuell macht.
Die Kreatur beobachtet schließlich aus einem Versteck heraus über viele Monate hinweg eine verarmte, wohlwollende Familie (hier bekommt man einen kleinen Abenteuerroman nebenbei präsentiert). Durch diese Beobachtungen lernt sie die Sprache. Durch die Gespräche lernt sie zusätzlich die Grundzüge der menschlichen Geschichte und Kultur. Ein kleiner Bildungsroman zwischendurch also. Am Ende sitzt der Schock tief: Diese verehrten Geschöpfe verstoßen und verachten sie wie alle anderen Menschen davor.
Erst jetzt beginnt die Kreatur ihren Rachefeldzug gegen die Menschheit. Ein Beispiel gescheiterter Integration, könnte man sehr wohl sagen.
Vieles ließe sich noch schreiben über die Rolle des genialen Wissenschaftlers und seine tiefen Depressionen oder über die spannenden sozialgeschichtlichen Beobachtungen im Buch. Die Welthaltigkeit des Romans erklärt sich übrigens auch daraus, dass Shelley viele der Orte, welche sie beschreibt, vorher besuchte.
Ein großer Klassiker ist Frankenstein auch deshalb, weil man die intellektuelle Unabhängigkeit der jungen Shelley an so vielen unterschiedlichen Punkten festmachen kann. Statt einen formal und inhaltlich generischen Erstling zu schreiben, ist sie auf mehreren Ebenen kritisch. Zwar übernimmt sie viele Motive aus der Romantik, bricht diese aber immer wieder auf. Es gibt bei ihr keine einfachen, symbolisch überhöhten Lösungen. Man spürt ständig die kritische Distanz zu den gängigen politischen Weltanschauungen ihrer Zeitgenossen. Weder übernimmt sie den romantischen Irrationalismus unhinterfragt noch schlägt sie sich auf die Seite der fortschrittsgläubigen Aufklärung. Und das in einem Alter, wo man üblicherweise sehr schnell und sehr idealistisch Stellung bezieht.
Diese geistige Unabhängigkeit einer jungen Frau im England des frühen 19. Jahrhunderts kann auch heute noch als Vorbild dienen.
Eine editorische Nachbemerkung:
Die Ausgabe heißt völlig zurecht The Annotated Frankenstein. Sie ist nämlich eine großformatige Luxusausgabe, welche Kommentar und Text verbindet. D.h. die zahlreichen Anmerkungen und Erläuterungen der Herausgeber finden sich in den Randspalten auf jeder Seite. Zusätzlich gibt es viele Abbildungen zur Veranschaulichung sowie Vor- und Nachworte. Das ist didaktisch hervorragend umgesetzt und könnte ein Indiz dafür sein, wie Klassikerausgaben in den nächsten Jahrzehnten aussehen werden.
Der Hauptnachteil dieser Editionsart ist allerdings, dass er ständig vom Text ablenkt und einem Bilder im Kopf vorgibt. Trotzdem begrüße ich den editorischen Aufwand und diesen gelungenen Versuch sehr, neuen Generationen schwer zugängliche Klassiker zu vermitteln.
Mary Shelley:The New Annotated Frankenstein (W.W. Norton & Company)
Ich bin von dem Buch weniger begeistert. Verschachtelte Rahmenhandlungen allein machen für mich noch keinen gelungenen Roman, und sämtliche Figuren, Sprache, Landschaften und alles Weitere sind derartig papieren, dass ich mich ziemlich hindurchgequält habe. Mit der Meinung bin ich übrigens auch nicht allein: https://www.bonaventura.blog/2017/mary-shelley-frankenstein-oder-der-moderne-prometheus/
Die Struktur war ja nur ein Punkt. Die beiden Hauptpunkte waren die inhaltlichen Anregungen, und die für einen jungen Menschen sehr unabhängige und kritische Weltsicht auf unterschiedlichen Ebenen.
Auch das mag zutreffen, aber das sind ebenfalls keine Kriterien für einen guten Roman. Als literarisches Werk ist das Buch eine Katastrophe.