Der Wallstein Verlag publiziert lobenswerterweise eine neue kritische Raabe-Werkausgabe. Herausgeber sind Moritz Baßler, Andreas Blödorn und Rolf Parr. Als ersten Band haben sie sich interessanterweise für eine fast vergessene Rarität entschieden: Die 1882 erschienene Erzählung Fabian und Sebastian.
Ungewöhnlich für den poetischen Realismus ist schon das Setting: Die beiden sehr unterschiedlichen Brüder sind die Besitzer einer prosperierenden Schokoladenfabrik in einer nicht identifizierten deutschen Provinzstadt. Die Raabeforschung verweist auf diverse Ähnlichkeiten mit Stuttgart. Wirtschaft & industrielle Produktion sind jedenfalls Motive, die in der deutschen Literatur damals selten sind. Sebastian ist der jüngere Bruder und agiert als der eigentliche Direktor. Fabian ist der eher kreative Typ mit viel Spleen und wohnt im Hinterhaus. Von ihm stammen viele der erfolgreichen Schokoladenkreationen.
Es gab noch einen dritten Bruder, der in die Dienste der niederländischen Kolonialverwaltung trat. Als er stirbt, hinterlässt er eine Tochter im Teenageralter, die schließlich aus dem Fernen Osten zurückkehrt und bei Fabian im Hinterhaus einzieht. Sie bringt schließlich die tragischen Ereignisse der Erzählung als Katalysatorin ins Rollen. Mit ihr zieht also auch noch der ganze Themenkomplex Kolonialismus in den Text ein. Auch die Kakaobohnen der Fabrik kommen ja aus den Kolonien. Wie das Thema des Industriellen sind auch die Kolonien nur dezent explizit präsent. Man findet aber einige Stellen in der Erzählung, die beides in einem kritischen Licht erscheinen lassen.
„Dezent“ ist insofern auch ein gutes Stichwort, da Raabe sehr viel mit Andeutungen und Leerstellen arbeitet. Als Leser ist man hier ordentlich gefordert. Auch die tragische Geschichte rund um ein junges Mädchen und ungewollte Schwangerschaften wird lange nur in Andeutungen erzählt.
Sehr lobenswert ist, dass die Werkausgabe nicht in den Textbestand eingreift, wir also die ursprüngliche Orthographie und Grammatik des Wilhelm Raabe zu lesen bekommen. Möge ihm die neue Werkausgaben neue LeserInnen bescheren.
Wilhelm Raabe: Fabian und Sebastian. Eine Erzählung (Wallstein)