Eine Scheindebatte.
Michael Seemann polemisiert in seinem Blog gegen die Internet-Ignoranz der Geisteswissenschaftler. Die Debatte über diesen Beitrag ist in vollem Gang. Jetzt.de der Süddeutschen Zeitung brachte deshalb ein Interview mit ihm über seine Kritik. Wer meine akademischen Arbeiten kennt, weiß, dass ich dem aktuellen Betrieb der Geisteswissenschaften ebenfalls sehr kritisch gegenüberstehe, allerdings in erster Linie aus erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Gründen. Begründet habe ich das in dem Essay Die Errungenschaften der Postmoderne als Theorie und ein Gegenmodell in meiner Dissertation vorgestellt.
Seemann scheint mit der prinzipiellen methodischen Unart, wie Geisteswissenschaftler derzeit zu Werke gehen, kein Problem zu haben, hat er doch selbst das Sammelsurium Kulturwissenschaften studiert. Was ihn dagegen ungemein stört, ist die Ignoranz gegenüber den Neuen Medien. Nun ist es ein prinzipielles Missverständnis, dass die gerne als Orchideenfächer geschmähten Disziplinen mit heraus hängender Zunge jeweils dem neuesten „Hype“ hinterher rennen müssen. Die Hauptaufgaben der Geisteswissenschaften sind doch erstens die Kultur- und Geistesgeschichte kompetent präsent zu halten (von hethitischen Inschriften über die islamischen Naturwissenschaften des Mittelalters bis hin zur Bedeutung der Werke Franz Kafkas für die Moderne) und sie für die Gegenwart in verschiedener Form fruchtbar zu machen. Zweitens sollten Geisteswissenschaftler nach ihrer Ausbildung über ein kritisch-rationales Denkvermögen samt Methodenwissen verfügen, das universal anwendbar ist. Ein Geisteswissenschaftler ist im Idealfall ein hoch gebildeter und aufgrund seines Wissens sehr skeptischer Intellektueller mit kritischer Distanz zur Gegenwart.
Die Realität sieht leider oft anders aus: Aus den Universitäten kommen Absolventen, die viele Jahre lang damit verbrachten, eine „Wissenschafts“sprache zu erlernen. Sie können dann am laufenden Band ähnlich klingende Texte produzieren (etwa „kulturwissenschaftliche“ oder „dekonstruktivistische“), ohne dass sie je von den Regeln der formalen Logik oder anderen Konzepten überhaupt nur gehört hätten, die unverzichtbar für kritisches Denken sind. Gleichzeitig erlernen sie ihre „Sprachen“, in dem sie TV Serien oder Nudelverpackungen als Gegenstand wählen. Man kann heutzutage ein Germanistikstudium abschließen, ohne je den Faust gelesen zu haben.
Es spricht nun selbstverständlich nichts dagegen, dass Geisteswissenschaftler ihren kritischen Blick auch auf Social Media, Blogs usw. richten. Das aber als Aufhänger für eine Fundamentalkritik zu nehmen, geht an den eigentlichen, oben angedeuteten Problemen völlig vorbei. Die Geisteswissenschaften sind keine schnelle Eingreiftruppe. Wer mehrere Jahrtausende kulturgeschichtlich überblickt, hat nicht nur das Recht auf eine gewisse Gegenwartsträgheit. Er sollte sogar besonders kritisch und distanziert sein und vieles aus der Metaperspektive betrachten. Hätte es die (akademische) Welt wirklich weiter gebracht, gäbe es jetzt hunderte geisteswissenschaftliche Arbeiten mehr über Second Life, in dem vor wenigen Jahren viele Zeitgeistler die Zukunft strahlend hell abgebildet sahen und das heute niemanden mehr interessiert?
Ich stimme Seemann allerdings zu, dass Geisteswissenschaftler die aktuellen Kommunikationstechniken als Handwerk (!) ebenso gut beherrschen sollten wie die Mönche in den mittelalterlichen Klöstern ihr Buchhandwerk. Junge Kulturwissenschaftler, welche behaupten, „auch das Buch [sei] ebenso zum Teil eine überkommene Wissensstruktur“ sehe ich jedenfalls als größeres Problem des aktuellen Wissenschaftsbetriebs an als ein paar paar Professoren, die E-Mail verweigern.
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»Liebe Geisteswissenschaftler, […] vielleicht braucht Euch ja doch keiner«
Ich würde das, was du als „Geisteswissenschaften“ bezeichnest, eher „Bildung“ nennen, vielleicht mit einem akademischen historischen und philologischen Hintergrund. Das meine ich nicht ab-, sondern aufwertend. Zur Bildung gehört es, glaube ich, immer, das Vorhandene neu zu übersetzen, vielleicht besteht sie sogar darin. Einen anderen Zugang zu Vergangenem als über Übersetzungen haben wir nicht, und vielleicht auch keinen anderen Zugang zur Gegenwart als über Übersetzungen des Vergangenen.
Um große Vorbilder zu nennen: Erasmus, in ganz anderer Weise Montaigne, waren solche Übersetzer, die das damals neue gedruckte Buch und die Kultur ihrer Zeit ernst genommen haben. Die Akademiker, die heute das Netz ignorieren, verstehen ihre Übersetzer-Rolle meiner Ansicht nach nicht richtig – so wie, wenn es sie so gegeben hat, Klostergelehrte im 16. Jahrhundert, die auf gedruckte Bücher verzichtet haben. Sie verwenden die Medien und die Techniken ihrer Zeit nicht und können deshalb auch Vergangenes nicht für die Gegenwart erschließen.
Ob sich jemand thematisch mit dem Netz beschäftigt, ist dafür nicht relevant. Es gibt viele Beispiele für akademische Behandlungen von Internetphänomenen, denen jedes Verständnis für die Kultur des Netzes fehlt.
Das nur als kurze erste Reaktion, hoffentlich nicht zu dogmatisch formuliert.