Um Städte und deren Bewohner kennenzulernen, kann ich folgende bewährte Methode empfehlen: Man besuche möglichst unmittelbar nacheinander ein sehr armes und sehr reiches Viertel. In London zeigen sich diese Kontraste seit jeher in besonderer Schärfe, wie wir Dickensleser wissen. Auch heute noch sind die Unterschiede frappant. Zwar entwickelt sich das multikulturelle Eastend im Moment zu einer angesagten Gegend, Stadtsoziologen sprechen hier gerne von Gentrifizierung, aber noch weiter im Osten, wo vor allem Migranten Unterschlupf finden, sieht man die Armut doch sehr deutlich. Wie es sich im Kapitalismus gehört, zeigt sich das vor allem auf den lokalen Märkten, wo quasi Schrottreifes noch zu Geld gemacht werden soll. Der traurige alte Mann mit einem schäbigen Pelzmantel zum Verkauf auf dem Arm stehe hier für viele andere. Auch sonst sind die Preise der Zielgruppe angemessen (One T-Shirt, One Pound) und diese Billigmärkte überlaufen. Man sieht vielen Menschen den täglichen Kampf ums Überleben an.
Eine knappe halbe Tube-Stunde im Westen, rund um den Sloane Square trifft man auf das andere Ende des britischen Klassensystems. Die Straßen sind voller luxuriöser Gefährte der höchsten Preisklassen und die Geschäfte haben es offenbar nicht notwendig, ihre Auslagen mit Preisschildern zu beleidigen. Man weiß auch so, dass einer der Hüte in dieser Bonsai-Boutique mehr kostet als der Monatslohn eines Migranten im Osten. Stilvolle Restaurants und Kaffeehäuser, edle Buchhandlungen, perfekt gepflegte Gärten, blitzblanke Straßen runden das Bild ab.
Dieses Zusammenleben von obszön reich und beschämend arm auf vergleichsweise engem Raum, ist nüchtern betrachtet eine erstaunliche Tatsache. Viele Sozialphilosophen, angefangen mit Plato, vertreten die Meinung, dass zu große ökonomische Unterschiede quasi zwangsläufig zu großen Konflikten führen. Es wäre überraschend, wenn das bei den Unruhen in Paris nicht auch ein maßgeblicher Faktor gewesen wäre.