Die Perspektive des Mitteleuropäers kommt noch stärker zur Geltung, wenn es um die Kunstrezeption geht. Als ich vor dem knallbunten Himmelstempel samt Nebengebäuden in Peking stehe, kommt mir unweigerlich Disneyland in den Sinn. Das ist natürlich eine völlig inakzeptable Assoziation, sie stellt sich aber mit Hartnäckigkeit immer wieder ein. Auslöser dieses Eindrucks ist wohl unsere Gewohnheit, europäische antike Monumente meist in elegantem Weiß zu sehen. Es entbehrt selbstverständlich nicht der Ironie, dass auch sie im Original ähnlich knallbunt waren wie es die chinesische Architektur noch heute ist.
Vor dem Hintergrund der in Europa zum Teil wütend geführten Debatten um die korrekte Restaurierung von Kunstwerken, man erinnere sich nur an die „Renovierung“ der Sixtinischen Kapelle, verwundert es sehr, wenn man in China offenbar einfach fröhlich darauf los malt, sobald die Farben schwächer werden. Der Wert der Authentizität, der für uns zumindest bei der vormodernen Kunst einen so hohen Stellenwert einnimmt, spielt in Ostasien nur eine sehr untergeordnete Rolle. Ein Professor für klassische Malerei in Guilin erläuterte zwei Wochen später dazu passend, dass es bei der Ausbildung zum Maler, die sieben Jahre und länger dauert, das höchste Ziel sei, perfekte Kopien von Meisterwerken herzustellen. Diese nähmen in der Wertschätzung dann durchaus denselben Rang ein, wie die „Originale“ selbst. Erst wenn man diese Kopiertechnik beherrscht, kann man sich dann durch subtile Feinheiten, etwa im Pinselstrich, einen Personalstil zulegen. Das ist nicht nur konträr zum abendländischen Konzept des Fortschritts und der Innovation in den Künsten, es dürfte auch die eine oder andere philosophische Theorie der Ästhetik in Verlegenheit bringen.